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Digital In Arbeit

Versuch über Amseln

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Ich könnte Ihnen die Amsel nach dem Hineingucken in Brehms Tierleben ziemlich genau schildern. Doch wozu das angemaßte Wissen: schlagen Sie selber nach! Ich weiß von der Amsel nur, daß sie ein halbgroßer, glänzend schwarzer Vogel ist mit lustigem Wippsteert und gelbem Schnabel, und daß sie im Winter immer schnell über den Schnee hüpft, sich unterm trockenen Laub zu verbergen. Ach ja, einmal beim Holzhacken schlüpfte ein schwarzer Gast durch die Schuppentür herein und sah mir längere Zeit bei der Arbeit zu. Sie muß wohl sehr hungrig gewesen sein.

Man muß aber jegliches Wesen nach seinem Besten beurteilen, denn wo kämen wir sonst hin? Die Vorsehung ist solch ein merkwürdiges Ineinander von Planwirtschaft und freier Initiative: nur in deinem Besten läßt sich ahnen, was die Schöpfung mit dir vorgehabt; der höhere Sinn eines Lebens erfüllt sich vielleicht in jenen drei Minuten, wo der Mann einen Traurigen fragte, warum er so traurig sei — alles übrige ist Nekrolog, diese drei Minuten aber werden ins Buch eingetragen. Einen Menschen nach seinen Fehlern beurteilen, hat nur Sinn, wenn dieser in der Hauptsache verfehlt ist, sonst aber heißt es die Ordnung verkehren, heißt unordentlich sein, und das heißt ein Stück Welt zerstören. Fehler haben oft plastischen, schattenbildnerischen Wert. Und dabei hat die Amsel vielleicht gar keine Fehler, außer daß wahrscheinlich auch sie alt wird und stirbt. Aber wie gut wissen die Tiere den Tod zu verbergen! Wo sind ihre Friedhöfe? Haustiere sterben massenhaft und unverborgen, das haben sie vom Menschen gelernt: doch du wirst kaum jemals ein totes wildes Tier finden. Wie schamhaft schafft die Natur den Tod beiseite!

Am Morgen, wenn des Kopfkissens zarte Fläche an deiner Wange liegt, wenn bald ein Schleier den Traum vom Wachen scheiden wird’ und man fast schon durch die geschlossenen Lider durchsehen kann, mitten in diesem heiligen Dämmer — weckt mich ein Amselruf. Und mit geschlossenen Augen höre ich ihr zu, denn es ist immer schön, durch eine Art Kuß geweckt zu werden. Sie singt nicht laut wie am Abend, wo sie sich auf die Baum spitze setzt, um die Echos der Laubgewölbe zu erproben —, aber auch nicht leise, sondern eben: erwachend, er weckend! Und sonderbar, wenn ich ihr halbschlafend zuhöre, will es mir klingen, als ob sie spräche. Daß jemand im Märchen auf einmal versteht, was die Vögel reden, kommt mir so vom Kopfkissen aus ganz natürlich vor. Und was die Amsel redet, ist eine hymnische Predigt, wie ja auch das gedankenschwere Credo gesungen wird.

Die Nachtigall ist Mozart, ich gebe es zu, aber die Amsel, die ist Haydn! Und dabei fällt mir ein, daß man ja Haydn vorwarf, seine Messen seien zu lustig, und daß er sich damit entschuldigte: Wenn er beim Musizieren an Gott denke, werde er immer so froh, daß es von selbst so herauskäme! Und daß Goethe, als Eckermann ihm dieses erzählte, ganz still saß und ihm die hellen Tränen übers Antlitz flössen. Sehen Sie, so ist die Amsel. Ein Meister der Überraschung. Nach dem süßesten Hauch von vier Flötentönen, die aus dem blauen Himmel, dort, wo die Wolkenfasern ganz oben stehen, hergeholt sind, kann plötzlich ein tiefgeschnarrtes Blitzintermezzo kommen, ein Humorwirbel im Melodienquell, und dann plätschert es bezaubernd weiter. Aber nicht etwa, daß sie damit alles in Frage stellte — wie jener dänische Pastor, der nach seiner Drohpredigt der schluchzenden Gemeinde zurief: „Nur Mut, Kinder, vielleicht ist alles gar nicht wahr!“ — nein, durch die Humorabsprünge bekräftigt die Amsel erst ihre Singseligkeit, denn so ist halt das Leben Hier liegt mein Ohr auf dem Kopfkissen, dort draußen im grauen Morgenlaub sitzt die Amsel, und wir beide fühlen dasselbe: ist das nicht wunderbar? Welch ein Wecker! Seitdem habe ich den meinen abgestellt.

Wo sie das her hat, möchte ich wissen? Kein Vogel spricht so sehr wie die Amsel. Vielleicht weil ihr Singrhythmus dem der menschlichen Rede am ähnlichsten gegliedert ist: man kann genau Wort und ganze Sätze unterscheiden, sind doch die Amselnoten deutlich wie gestochen. Und zwar ist sie ein grammatikalisch sehr feiner Vogel, denn sie weiß, nach knappen Staccati, wunderbar gebaute Melodieperioden auszusagen, deren Vielblätterige Verzweigungen aus dem Stamm des

Hauptsatzes aufschießen, ihn zu bedingen und zu beschirmen. Wenn man der Amsel zuhört) wird einem klar, daß die langen Sätze, heute als altmodisch und unnatürlich verrufen, im Gegenteil höchst realistisch sind — dehn so, genau so sprießen die Gedanken auf: bald neben-, bald nacheinander, bald verdichtend, bald auseinander schnellend — atmend.

Ja, wo hat sie das her, die Amsel? Da kann mir auch der Brehm keine Auskunft geben, also hätte sich das Nachschlagen sowieso nicht gelohnt. Ich indessen könnte ihm sagen, daß in den Vögeln, die ja nach den stummen Fischen kommen, die Natur zum ersten Male Stimme wird. Bis dahin war sie bloß Geräusch: Knall, Donner, Knistern, Wehen, Rauschen, Rascheln, Summen, Zirpen, Zischen, Quaken — hier aber, in der kleinen Vogelkehle, erhielt die Natur zum ersten Male das Stimmrecht, wurde Ausdruck und gab ihr liebliches Votum zur Schöpfung ab! Und nun ist es so, daß im Anfang stets das Ende keimhaft enthalten sein muß, denn sonst hätte ja das Wort Ent Wicklung keinen Sinn. So ist auch in der ersten, der Vogelstimme, bereits der Keim zur menschlichen Sprache gelegt: auch das höchstentwickelte Tier kann uns stimmlich nicht nachahmen — aber die Vogelkehle, sie von allen Naturstimmen allein, vermag ps! Und als früheste Stimme der Natur ist der Vogelläut auch ihre schönste, die erst von ihrer letzten, der Stimme des Menschen, durch Gnade und Kunst erreicht werden kann. „Ich singe, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet!"

Im Gegensatz zu einigen anderen Rednern wirkt die Amsel nie ermüdend; sie macht einem die Ohren nicht abwelken, sondern unsere Muscheln runden sich und können gar nicht genug haben. Wenn wir reden, wenden wir uns an eine Tischrunde, einen Saal, eine Menge: Die Amsel weiß aber abends immer genau, wann ihr Zeitpunkt, der stille, gekommen ist; dann fliegt sie auf ihre Lieblingskanzel — einen Baumwipfel, einen Dachvorsprung, einen Flaggenknopf — und wendet sich an alle, alle. Mitamseln, Bürger, Freunde, hört mich an! Doch ebenso wendet sie sich auch an die Bäume, die Berge, die Wasser, die Wolken, die Blumen und besonders an die untergehende Sonne. Und merkwürdig ist, daß die ihr alle wirklich zuhören: die Blumenkelche sind ganz Ohr, die Zweige nicken Zustimmung, der Efeu kriecht fast in die Luft, ufn besser zu hören, das Wasser fließt saumseliger, die runde Sonne dfückt sich am Horizont ein wenig platt, wie ein Goldkind, das sich vor dem Schlafengehen sperrt, um noch was zu erschnappen, und auch wir, wir Menschen, werden im Felsen unseres Herzens bewegt von diesem kleinen Sänger, der schwarzgefiedert auf dem Altan steht und ganz vom Gebot der Stunde durchdrungen ist.

„Geben Sie mir eine Nachtigallen-, eine Lerchen- und eine Amselplatte", verlangte ich neulich im Grammophonladen. — „Bedaure, mein Herr, das führen wir nicht. Aber wenn ich Ihnen vielleicht die neuesten Schlager "

Seitdem bleibe ich Amsel-Schwarzhörer.

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