6557841-1948_32_06.jpg
Digital In Arbeit

Die religiöse Problematik des Arbeiterkindes

Werbung
Werbung
Werbung

Was die Herzen unserer Arbeiterkinder bewegt, ind nicht unwesentliche Kleinigkeiten. Die zentrale Frage ist für sie der Gottesbegriff. Natürlich kommen die Kinder nicht von elber darauf, sie spiegeln nur wider, was im Volke lebt. Aber es ist erstaunlich, wie sehr sie diese Gedanken aufgreifen und davon nicht loskommen. Vorliegende Arbeit stützt sich auf Hunderte von Aufsätzen von Kindern. In den meisten stehen die Fragen um Gott an erster Stelle: Was ist das für ein Gott, der seinen Kindern so viel zumutet, da er doch alles ander machen könnte? Im Volk lebt noch vielfach jene naive Vorstellung des Helfergottes, der der Generation vor 1914 geläufig war: wenn wir brav sind, glauben und beten, wird Gott uns nicht verlassen.

Durch den ersten Weltkrieg hat dieser Glaube den ersten Stoß bekommen, durch den zweiten Weltkrieg den zweiten. Nach außen tritt die religiöse Krise, die damit bei vielen ausgelöst wurde, diesmal nicht so in Erscheinung, aber nach den Äußerungen der Kinder ist sie die große bewegende Frage, die in erschütternder Ratlosigkeit ausgesprochen wird. Ein Kind erzählt von einer Nachbarin: „Die Bomben haben unsere Einrichtung zerschlagen, meine beiden Söhne sind gefallen. Mir ist es zuviel, ich mache Schluß mit dem lieben Gott.“

Ein Mädchen hörte ähnliches von einer Frau, deren Mann, aus der russischen Kriegsgefangenschaft kommend, in einem Vorort Wiens absprang, um früher heimzukommen. Er geriet unter die Räder und verunglückte. Es erzählt: „Die Frau sagte: ,Das hätte ein Gott nicht anseihen können “ Nun schreibt das Mädchen 4. Hauptschule weiter: „Ich hatte es mir noch einmal durchgedacht und fand, daß die Frau, der so viel Leid widerfahren ist, doch ein bisserl recht hatte. Daß Gott das zulassen, kann, verstehe ich nicht."-

Wenn das Mädchen dem Einfluß des Reli- gionslehrers in der Schule entzogen ist und- nicht zufällig Anschluß an gläubige Kreise findet, wird sein Glaube in wenigen Jahren ganz verschwinden.

Ein Knabe erhebt sich gegen den „grau-- samen Gott" und schreibt: „Warum hilft er uns nicht, wenn er Gott ist? Er kommt erst immer, wenn die Hälfte gestorben ist.“

Zu beachten ist, daß Kinder aus bürgerlichen oder bäuerlichen Kreisen diesen Ton nicht wagen würden. Sie leben noch in der alten Angst vor Gott. Sie fürchten sich vor dem Frevel, so auch nur zu denken. Sie durchbrechen die alten Ordnungen nicht. Ein

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung