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Zwischenbilanz der Ersten Republik

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Hier ist eine kurze Zwischenbilanz der Ersten Republik geboten.

Der neue Staat wird zunächst nur als Wartesaal empfunden. Warten auf den Anschluß an Weimar, warten auf die Wiederherstellung der Donaumonarchie, auf eine Donauföderation. Die aus dem Vielvölkerstaat kommende Generation tradiert den Nationaisbegriff des 19. Jahrhunderts bedenkenlos in das neue Gemeinwesen und mit ihm eine politische Bewußtseinsspaltung. Von den Kathedern der hohen Schulen wird nicht Österreichische Geschichte gelehrt, sondern die Geschichte „gesamtdeutsch“ interpretiert. Der Konsolidierungsprozeß weckt in der nachrückenden Generation eine erste Selbstbesinnung und die Forderung nach einem neuen geistigen Fundament. Dieser Ruf kommt primär aus dem christlichen Lager. Den Sozialisten wird die Staatsentfremdung, Frucht der Politik ihrer Führung nach 1920, zum Schicksal. Sie huldigen, nachdem die Anschlußparole ihren Glanz verloren hat, in der Mehrheit einem farblosen Internationalismus. Als Hitler vor den Toren steht, werden allerdings Sozialisten sich mit ihren „vaterländischen“ Gegenspielern zum erstenmal unter der rotweißroten Fahne finden und gemeinsam den Weg in die Lager der Gewalt gehen. Eine Begegnung, der für die Zukunft Österreichs größte Bedeutung zukommt. Die äußerste Linke stellte sich mit der ihr eigenen Wendigkeit nach dem Beschluß der Komintern vom proletarischen Internationalismus und Radikalismus auf die Volksfrontparole um Nicht zuletzt, um sich patriotischen Kreisen zu empfehlen, übernimmt sie ohne Zaudern die nationale österreichische Parole (Alfred Klahr). Für den

Deutschnationalismus aller Schattierungen ist Österreich nur eine „deutsche Aufgabe“. Der Anschluß bleibt letzten Endes das Ziel. Das nationale und völkische Vereinsleben ist weltanschaulich, geistig und vielfach auch organisatorisch die Basis für die Erfolge der NSDAP. Hitler ist als Endpunkt einer verhängnisvollen geistigen Entwicklung und nicht als ihre Ursache und Erklärung anzusehen.

Die nächsten sieben Jahre haben die Österreicher jedenfalls zwischen Ernteeinsätzen und Kinderlandverschickung, zwischen Frontdienst und dem Weg in die Luftschutzkeller Zeit zum Nachdenken über ihren geistigen Standort. Was sage ich sieben Jahre? Es waren doch tausend Jahre, die der Führer seinem Dritten Reich zumaß. Und sie wurden auch als solche von vielen empfunden.

Der deutschnationale Gedanke ln Österreich hatte in seiner radikal sten Form Verwirklichung gefunden. „Großdeutschland“ war aus den Wolken auf die Erde herabgeholt. Wie so manchem Traum bekam auch diesem die Realität nicht gut. Gerade durch seine Verwirklichung führte sich das Wunschbild sehr rasch selbst ad absurdum. In der tagtäglichen Konfrontierung mit den Deutschen des Reiches entdeckte so mancher Ostmärker oder, wie es später gar nur noch hieß, Volksgenosse aus den Donau- und Alpengauen, erst sein eigenes Ich. Interessant war, daß nicht selten die Begegnung mit den Menschen und Landschaften Altösterreichs bei vielen Österreichern im feldgrauen Wehrmachtsrock etwas in ihrem Innern zum Klingen brachte, was in Hamburg, Hannover, ja selbst in München stumm blieb. Die gemeinsame Sprache war also doch nicht jenes feste Band, das Menschen aufs innigste miteinander verbindet. Eine neue Generation, die dritte Generation seit 1918, wuchs heran. Sie erarbeitete sich vielfach ihr Österreichbild, als es dieses Land nicht gab. Die Geheime Staatspolizei und auch die Henker bekamen bald Arbeit. Ein wohl mehr als unverdächtiger Zeuge, Kaltenbrunner, muß 1944 von „gewissen Österreichtendenzen“ Notiz nehmen. Und in Wien saß 1943 ein Rechtsanwalt namens Dr. Schärf einem Abgesandten der deutschen Opposition gegenüber und enttäuschte diesen bei seinen Planungen für die gemeinsame Zukunft nach dem Sturz Hitlers durch das Bekenntnis: „Der Anschluß ist tot“

(Wird fortgesetzt)

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