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VORSTUFEN ZUM „TURM”

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Hofmannsthal war der Erbe des reichen und vielgestaltigen Kulturbesitzes der alten Monarchie. Zu diesem gehörten Italien und Spanien nicht weniger als das Wien des 17. und 18. Jahrhunderts. Unter den Dichtern der Romanitas, mit denen er sich beschäftigte und die für sein Werk Bedeutung hatten, nimmt Calderon eine besondere Stellung ein: Vom „Kleinen Welttheater” bis zum „Turm” kann man Calderons Einwirkung auf Hofmannsthal nachweisen.

Bereits in einer gereimten Epistel des jungen Hofmannsthal an Richard, Beer-Hofmann aus dem Jahre 1892 finden wir den Vers des großen Spaniers, den vierfüßigen Trochäus, jenes Versmaß, das wesentlichen Qualitäten der Diktion Hofmannsthals besonders entsprach. Hier und in dem Gespräch „Großmutter und Enkel” sowie im Prolog zu „Tor und Tod” begegnen wir „Calderon als Form”, wodurch eine spätere und weitergehende Aneignung auch der Gedankenwelt des großen Spaniers vorbereitet wurde. In dem 1897’entstandenen kleinen Drama „Der Kaiser und die Hexe” gestaltet Hofmannsthal das Problem von Schuld und Läuterung des Helden im christlichen Sinn mit deutlicher Anlehnung an Calderon. Die Schuld des Kaisers ist sein Zustand der Entfremdung von seiner höheren Bestimmung, den Hofmannsthal als Sündenfall darstellt. Aus eigener Kraft kann der Kaiser nicht gerettet werden. Nur durch die Läuterung, die ihm eine höhere Macht angedeihen läßt, wird er vom Zauber der Hexe erlöst. Das ist Calderon: in der Problemstellung, im symbolischallegorischen Charakter der Figuren, im Vorgang der Läuterung des Kaisers und in der Art seiner endlichen Rettung durch die Gnadenwahl.

Im Juni des gleichen Jahres, als „Der Kaiser und die Hexe” entstand, wurde im Arkadenhof des Wiener Rathauses Calderons „Großes Welttheater” aufgeführt. Es ist anzunehmen, daß Hofmannsthal einer der Aufführungen beiwohnte oder zumindest von dem bedeutenden theatralischen Ereignis wußte. Aus dem Jahre 1897 stammt auch Hofmannsthals lyrisches Drama „Das kleine Welttheater” oder „Die Glücklichen”. Drei Jahre später taucht der Plan zu einem Operntext für Richard Strauss („Semira- mis”) nach Calderons „Tochter der Luft” auf, der aber nicht realisiert wird. In diese Zeit fällt auch die Bühnenbearbeitung der- „Dame Kobold”, eines Mantel- und Degenstückes, das erst 1920 als erster Band einer projektierten Reihe von Calderon-Bearbeitungen gedruckt wurde.

Zum Kern der Calderonschen Kunst- und Weltauffassung stieß Hofmannsthal aber erst vor, als er sich mit den „autos sacramentales”, den geistlichen Spielen des großen Spaniers, vertraut machte. Diesen liegt die Auffassung zugrunde, daß das menschliche Leben ein Spiel auf der Bühne ist: die Idee des Welttheaters. Das entsprach, freilich auf einer etwas anderen Ebene, auch der Auffassung Hofmannsthals. Jedenfalls war bei ihm die Disposition zur Aneignung von Calderon „als Gehalt” von allem Anfang an vorhanden. Aeußere Umstände — die Gründung der Salzburger Festspielhausgemeinde im Jahre 1917 und eine naheliegende Aktualisierung des Sujets von Calderons „Großem Welttheater” — führten zur Beschäftigung, Bearbeitung und Aufführung des „Salzburger Großen Welttheaters” (am 12. August 1922 in der Kollegienkirche zu Salzburg). Hofmannsthal meint, daß sein Drama mit dem Calderonschen Spiel in der Metapher übereinstimmt, „daß die Welt ein Schaugerüst auf baut, worauf die Menschen in ihren von Gott ihnen zugeteilten Rollen das Spiel des Lebens auf führen; ferner der Titel dieses Spieles und die Namen der sechs Gestalten, durch welche die Menschheit dargestellt wird”. Die Gemeinsamkeit geht indessen wesentlich weiter. Neben dem religiösen Grundgedanken, der da und dort der gleiche ist (wenn wir den zeitlichen Abstand von fast dreihundert Jahren erwägen), weist auch die Uebereinstim- mung im Formalen auf Calderon. An vielen Einzelheiten kann man aufzeigen, wie nah Hofmannsthal der Vorstellungswelt Calderons ist. Dagegen hat er, ähnlich wie Grillparzer, dem Calderonschen Stück „La vida ės sueüo” nur die Fabel entnommen. Das in den „Rodauner Nachträgen” veröffentlichte Fragment „Das Leben — ein Traum” stammt bereits aus dem Jahre 1902, und erst nach 25 Jahren beendete Hofmannsthal, nicht ganz ohne Resignation, seine Arbeit an dem Werk, das wie ein strenger, nie aussetzender Anspruch seine übrige, so reiche Produktion begleitet und seine letzten Lebensjahre verschattete. Bei Calderon fand er für sein letztes, großes Theaterstück einen jener ewigen Stoffe, die er „die Hieroglyphe einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit” nannte. Das Stück selbst aber wurde für ihn „eine Rechnung, die nicht auf gehen kann.” So ist der „Turm” nach Calderon, obwohl äußerlich in zwei Fassungen vollendet, irgendwie Fragment geblieben, eines jener großartigen freilich, wie sie immer wieder den Weg der großen deutschsprachigen Literatur kennzeichnen.

Das stoffliche Gefüge des „Turm” ist so dicht, seine Problematik so komplex und um_- fassend, daß im Rahmen dieser kurzen Studie nur andeutungsweise versucht werden kann, eine Vorstellung von ihrem inneren Reichtum zu geben. Die Handlung ist in ein sagenhaft- unbestimmtes mittelalterliches Polen verlegt. Der König Basilius läßt aus Selbstliebe und Furcht seinen Erstgeborenen, von dem ihm Unheil prophezeit wurde, vom Hof entfernen und zunächst bei Bauern aufwachsen, dann den Jüngling in einen schrecklichen Kerker werfen, wo er wie ein Tier dahinlebt. Hierdurch versündigt er sich nicht nur an seinem Blut und dem Gesetz der Vaterschaft, sondern auch an der Menschengesellschaft und der ganzen natürlichen Ordnung. Der weise Arzt sagt, als er den Prinzen untersucht: „An der Stelle, wo dieses Leben aus den Wurzeln gerissen wird, entsteht ein Wirbel, der uns alle mit sich reißt.” Ein verlorener Krieg, Korruption am Hof, wirtschaftliche Krisen, Bürgerkrieg und Abfall der Kirche vom König — dies alles bringt den Thron zum Wanken. Die alten Ordnungen verschieben sich, neue Mächte stehen auf, und in seiner höchsten Not muß sich der König an den einzigen legitimen Thronanwärter, seinen verbannten Sohn, wenden. Noch einmal bekommt der König die Zügel der Macht an die Hand, aber sogleich verschlingt ihn der Umsturz, die Revolution. Jetzt drängt die Adelskaste unter der Führung des ehrgeizigen und skrupellosen Julian zur Macht. Als Kerkermeister des Prinzen glaubt er, Sigismund als sein willenloses Werkzeug in seiner Hand zu haben. Aber gerade da, wo er ihn am nötigsten hat, verweigert sich der Prinz, und die Revolution schlägt auch über Julian zusammen. Auch einem zweiten, Olivier, der die Blutfahne entfaltet, entzieht sich der Prinz. Je mächtiger und drohender um ihn her das Chaos herrscht, in um so stärkerem Licht strahlt die Unschuld seines reinen Menschentums …

Dem Gehalt dieser Dichtung entspricht auch ihre Sprachform. Calderons spanische Trochäen hätten diesen Inhalt nicht mehr zu fassen vermocht. Was manchem zunächst als expressionistischer Stil erscheinen mag, ist das der Fülle und Größe angemessene Pathos, ist eine bis zum Reißen angespannte Sprache. — Was Heinrich von Kleist erstrebte: die Synthese von Sophokles und Shakespeare, von Klassik und Romantik, ist hier geleistet. Klassisches und Romantisches, um barocke Züge vermehrt, der chaotische Stoff einer bewegten Zeit in eherne Form eingeschmolzen, das ist die Leistung Hofmannsthals, in. der sich nicht nur ein Dichterleben, sondern auch eine Zeitwende spiegelt.

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