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500 Jahre Leidensgeschichte

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Kolumbus-Gedenkjahr, Unterdrückung und Befreiung, Missionierung und Evangelisierung, Entwicklungspolitik und Schuldenkrise, Basisgemeinden und Inkulturation, Option für die Armen und Kirchenstrukturen - all das kam auf der Österreichischen Pastoraltagung zur Sprache.

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Kolumbus-Gedenkjahr, Unterdrückung und Befreiung, Missionierung und Evangelisierung, Entwicklungspolitik und Schuldenkrise, Basisgemeinden und Inkulturation, Option für die Armen und Kirchenstrukturen - all das kam auf der Österreichischen Pastoraltagung zur Sprache.

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„Ich komme zu euch, beladen mit all diesen Jahrhunderten, beiaden mit Amerika", sagte Luis Zambrano, Priester und Theologe aus Puno in Peru. Dann nannte er Namen jener Völker, für die mit der sogenannten Entdek-kung Amerikas vor 500 Jahren eine lange Leidensgeschichte begonnen hat: Azteken, Maya, Cuna, Quiche, Quechua, Aymara, Mapuche, Agua-runa, Campa, Shipibo, Guarani in Lateinamerika, Cherokees, Navahos, Sioux, Mohawks, Apachen in Nordamerika.

Ausbeutung, Versklavung, Völkermord - Zambrano läßt keinen Platz für ein Jubiläum nach europäischem Zuschnitt. „Ungerecht", sogar „makaber" wäre es seiner Meinung nach, etwas wie „500 Jahre der Entdeckung und Evangelisierung Lateinamerikas" zu feiern: „Man kann den Tod nicht feiern, zumindest wir Unterdrückte in Amerika nicht."

„Von der Missionierung zur Evangelisierung - Zur Zukunft der Kirche in Amerika und Europa" lautete das Thema der diesjährigen Österreichischen Pastoraltagung, an der neben Luis Zambrano noch zwei weitere Referenten aus Lateinamerika teilnahmen: der Bischof von Santa Maria in Brasilien, Jose Ivo Lorscheiter, und die evangelische Pfarrerin Haidi Jar-schel aus Santo Andre, ebenfalls in Brasilien. Den etwa 450Teilnehmern aus Österreich und dem benachbarten Ausland, die im Wiener Bildungshaus Lainz zusammengekommen waren, bot sich so die Gelegenheit, nicht nur über die Kirche Lateinamerikas nachzudenken, sondern mit einigen ihrer Vertreter direkt ins Gespräch zu kommen.

Eine „arme Kirche" werden

Dieses Hinhören auf die Glaubenserfahrungen anderer - unverzichtbares Element eines partnerschaftlichen Umganges miteinander - war für das Gelingen der Tagung von großem Gewicht. Luis Zambrano etwa gab in seinem Eröffnungsreferat zu verstehen, daß er nicht nur gekommen sei, um seinen eigenen Standpunkt einzubringen, sondern auch, um „zu hören, was Österreich, was Europa zu sagen hat". Zambrano sprach im Rückblick auf die Tagung von einer „bedeutenden Begegnung von Menschen" und verlieh der Hoffnung Ausdruck, das Jahr 1992 könnte der Anfang eines neuen Engagements, einer neuen Zeit sein.

Einmal mehr wurde deutlich, wieviel die europäische Kirche von den Aufbrüchen in den jungen Kirchen Lateinamerikas lernen kann und wie problematisch daher der unreflektier-te „Export von Missionaren" (Zambrano) früherer Missionierungskon-zepte ist. So ist die vielzitierte „Option für die Armen", die im europäischen Kontext immer noch eher ein Lippenbekenntnis zu sein scheint, in vielen lateinamerikanischen Gemeinden gelebte Wirklichkeit. „Wir versuchen nicht nur .Kirche der Armen' zu sein, sondern eine ,arme Kirche'", präzisierte Dom Jose Lorscheiter in seinem Referat. Nicht nur für, sondern mit den Armen versuche man zu arbeiten. Und dabei soll nach den Worten des Bischofs nicht der Klassenkampf zwischen Arm und Reich gefördert, sondern vielmehr jener Kampf beseitigt werden, der in Form von Unterdrückung ständig im Gang ist.

Einen wichtigen Impuls für das kirchliche Leben in Europa stellt nach wie vor das Modell der Basisgemeinden dar, von dem - Pfarrer Ferdinand

Kerstiens berichtete es - ein „Anima-dor" aus El Salvador einmal treffend bemerkt hat: „In den Basisgemeinden sammeln sich die Katholiken, die Christen werden wollen" - eine Formulierung, die wohl auch in Europa nicht ohne Bedeutung ist.

Für Bischof Lorscheiter sind die Basisgemeinden unter anderem deshalb wertvoll, weil sie die Vitalität der Pfarreien fördern, Mystik und Politik zu verbinden wissen und den Gläubigen die Bibel auf einzigartige Weise nahebringen. Die Bibel aber ist, wie Pfarrerin Haidi Jarschel schilderte, „für die, die zum Schweigen gebracht worden sind, ein bedeutendes Instrument, die Wirklichkeit zu benennen". In einer „lateinamerikanischen Hermeneutik", einer Bibelauslegung, die immer im Spannungsdreieck von Subjekt, Text und alltäglicher Lebenserfahrung steht, gewinnen die biblischen Geschichten aktuelle Bedeutung für das Leben der einzelnen und der Gemeinden.

Selbstverständlich kann, wo die Kirchen Amerikas und Europas zusammentreffen, die beschämende Geschichte des europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und seiner schmerzhaft spürbaren Auswirkungen nicht unerörtert bleiben. Immer wieder wurde die Schuld des reichen Nordens thematisiert. Luis Zambrano erinnerte an den Vorschlag, 1992 zu einem „Jahr der Gnade" zu erklären und nach alttestamentlichem Vorbild alle Schulden Lateinamerikas, die ungerechterweise angehäuft worden seien, zu streichen.

„Nachhaltig" wirtschaften

Der Grazer Wirtschaftswissenschafter Stefan Schleicher warnte hingegen vor „verkürzenden Antworten", zu denen er auch einen sofortigen Schuldenerlaß zählte. Stattdessen empfahl er „intelligente Formen des Schuldenverzichts", die gewährleisten sollen, daß der Nachlaß zu den gewünschten Effekten führe. Schleicher zeigte die dringende Notwendigkeit einer prinzipiellen Umgestaltung des Wirtschaftsstils der Industrieländer auf. Es müsse in Zukunft „nachhaltig", mit erneuerbarer Energie und unter Vermeidung von Abfall produziert werden. Denn der derzeitige Wirtschaftsstil sei nicht „globalisierbar".

Was für den Ökonomen Gültigkeit hat, unterstrich Pfarrer Kerstiens auch für das kirchliche Leben: In Europa selbst müssen wesentliche strukturelle Veränderungen geschehen - hin zu einerpartnerschaftlichen Pastoral,die auf die Stimme derStummgemachten hört und von den Menschen lernt. Auch die europäische Kirche muß

sich, mit einer Formulierung Luis Zambranos, „von den Armen evange-lisieren lassen".

So bleibt nach dieser Pastoraltagung vor allem ein dramatischer Appell an Europa in Erinnerung: In seiner Predigt anläßlich eines Bußgottesdienstes verglich Bischof Lor-

scheiter Europa mit dem schlechten Feigenbaum, dem nur noch ein Jahr der Bewährung gegeben wird, und fragte dann im Blick auf das ge-schichtsträchtige Bedenkjahr, ohne eine Antwort zu geben: „Wie wird unsere Geschichte enden? Was werden wir 1992 tun?"

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