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DIE NÄHE ÜBER DEN ZEITEN

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Allerseelen ist ein Tag, an dem wir uns, jeder, ob arm oder reich, zugute halten, Kultur zu haben. Die Verehrung des Andenkens ihrer Vorangegangenen macht unter den Völkern eines der ältesten Rangzeichen aus, und wir wissen es. Wir wissen es unausgesprochen, wenn auch nicht viel mehr geschieht, als daß einer Sitte gehorcht wird. In Scharen bieten wir uns auf, die Stätten heimzusuchen, wo die Namen der Unsrigen in der Reihe bewahrt sind. Einmal im Jahr wird auf solche Art der Zusammenhang bezeugt zwischen den Schichten des Gewesenen und dem Boden, auf dem wir stehen. Indem wir Kränze hintragen vni uns mit Lichtern mild zu helfen wissen, gereichen die Gräber zum Trost so gut wie zur Trauer. Wh- schmücken gesenkten Hauptes jene Wohnungen auch als die unseren, da wir vertrauen, einst in sie einzugehen. Wir nutzen mit einem leisen Gedanken schon das Anrecht der Seßhaften, das letzte selbstgewisse Recht, das die Heimat zu vergeben hat. So wird die Ehre der Toten, die dem Volk teuer ist, den Lebenden in kleiner Münze zuteil. Vom Obolus der Jenseitigen fällt uns ein Zins-groschen zu. Wir spüren ihn kühl im Händefalten. Dieses Fest im November hat eine tiefe, doppelte Grundlage seiner Gültigkeit.

Aber unter uns sind viele, denen kein Zins wird. Während man rüstet, die Stunde zu feiern, haben sie kein Recht eines Weges dahin. Durch ihre Zeitlichkeit ist, gleich einem Schnitt, die gewaltsame Grenze gezogen; sie trennt ihre Herkunft von den Wurzeln. Als sie die heimische Habe verließen, blieb auch das Erdreich zurück, das den Verstorbenen leicht war. Nun sind sie Gäste geworden auf fremdem Grund und finden nichts von dem Stoffe ihres Werdens darin. Sie schauen zu, wenn der Feiertag der Toten vonstatten geht, denn sie sind ohne das heilige Besitztum. Wir, denen es bewahrt wurde, zehren von einem Bestand, den sie mit keinem Lichte erreichen. Die verlorenen Maler haben keine Wirklichkeit mehr.

Wenn einmal unsere Zeit zu betrachten sein wird, aus dem Abstand der Nachgeborenen, und die Inschriften sprechen sollen: Hic jacent — hier ruhen die Väter..., werden Millionen Tafeln nicht an ihrem Orte sein. Es wird als ein Jahrhundert der friedlosen Friedhöfe, der Toten, die im Elend sind, erkannt werden. Denn “da sind Gräber ohne Zahl so weit vom Ursprung ihrer Namen, wie kein Mensch in Liebe getragen werden kann. Mit den Entrechteten aus vieler Herren Länder ist eine ungeheure Schwere zur Mutter Erde eingekehrt. Sie alle mußten hinab und den Anfang machen, irgendwo unter einem unbeschriebenen Epitaph, als ob sie aus erloschenem Sein nun in das Ungewisse abgeschieden wären.

Wenn wir den Gang gehen mit unseren Kränzen und Astern-sträußen, blicken viele uns nach. Sie merken, wie wir uns im stillen gefallen bei den Verrichtungen der Frömmigkeit und wie selbstverständlich unser Tun an der Sitte sein Genügen hat. Sie denken, wie fern sie ihren kleinen geliebten Besitztümern sind und messen an diesem Tag den Abstand unsäglich weit. — Während wir geneigt sind, in die Tiefe zu schauen, gebe ihnen Gott die Nähe, zu erkennen, wie sie jenseits der Zeiten gesehen wird.

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