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Das Mädchen, die Katze

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Es begann vier Tage vor ihrem Namenstag und zwei Monate, fünfzehn Tage nach ihrem elften Geburtstag.

Die Einsamkeit war nicht mehr zu ertragen. Mutter, Vater, Bruder waren fremd wie Eskimos, fremder noch, denn die kannte man wenigstens aus Büchern. Stumme Verzweiflung weichte die Familie auf und dicke Tränen ebneten das Terrain völlig ein.

Am Nachmittag war es ihr gelungen, eine Katze aufzutreiben. Sie war klein, krank und verwahrlost. Sie hatte den Kopf eines Tigers, das Gesicht einer Eule, die Halskrause eines Löwen und die Flanken eines Affen. Sie schnurrte, als hätte sie einen Motor verschluckt, Sechszylinder mit Over-drive. Sie hatte einen gebrochenen Schweif, einen Bauchpelz voll Kletten und Durchfall. Mit einem

Wort: sie war die schönste Katze der Welt.

Innerhalb einer Stunde trank sie einen halben Liter Milch, fraß die Leber für die morgige Suppenspeise und zog sich in schwer zugängliche Verstecke zurück.

Es war schwierig, einen Namen zu finden, und die Beratungen über Madame Suzette, Suleika, Bastienne, Bussi, Muschi und Tatokadan währten über Stunden. Sie wurden nur unterbrochen, wenn intensiver Geruch von einer Stelle ausging, die man nur auf dem Bauche liegend, mit Hilfe eines Schürhakens erreichen konnte.

Inzwischen schrieb der Bruder — zwei Jahre jünger — Zettel voll, die er sich blanko, abwechselnd von Vater und Mutter unterschreiben hatte lassen. Es stand immer darauf:

„Ich bekomme eine eigene, echte, lebendige Katze."

Der Vater schlug vor, das Tier Maushund zu nennen, verfiel aber darob der allgemeinen Ächtung. Die Mutter kochte Kamillentee, doch die Katze wollte ihn — auch gezuckert — nicht trinken. So bekam sie die letzte Milch, die für das Frühstück hätte aufgehoben werden sollen.

Ein Korb wurde mit Vaters warmer Unterhose vom letzten Winter ausgepolstert.

„Wenn sie ausgewaschen wird, kannst du sie ja wieder tragen", sagte die Tochter gönnerhaft.

Der Vater nickte ergeben.

Als sie an diesem Abend, zwei Stunden später als sonst, schlafen ging, war sie nicht mehr einsam.

Vor dem Einschlafen stritt sie noch mit dem Bruder und es war entschieden, daß nur sie selbst etwas von Katzen verstand.

Zu dieser Zeit räumte die Mutter die letzten Spuren des Durchfalls fort, und versuchte, der Katze den Filz auszukämmen.

Mitten in der Nacht aber saß der Vater in der Küche und hatte eine kleine, verlassene, schmutzige und maunzende Katze auf den Knien, die nicht allein bleiben wollte.

Am nächsten Tag wird die Katze gewaschen.

Da es bekannt ist, daß Katzen Wasser nicht lieben, werden große Vorbereitungen getroffen. Die Mutter zieht lange Gummihandschuhe an und die Tochter steht mit einem großen Frottiertuch bereit. Doch die Katze ist gutartig. Sie steht zitternd und mager in der Abwasch, kratzt nicht und beißt nicht, während Wolken von Shampoo in ihr Fell gerieben werden und viele Liter warmen Wassers sie umströmen.

Später wird sie gefönt und der Vater hält ihr die Ohren zu, weil sie den Luftstrom in ihnen nicht mag. Die Mutter kämmt und bürstet das Fell, fängt zwei Flöhe, die beim Baden nicht ertrunken sind und ist stolz auf ihr Werk.

Die Katze sitzt in ihrem Korb vor dem elektrischen Ofen und leckt sich. Der Bruder darf sie nicht angreifen, der Vater nur, wenn er einen gereizten Blick in Kauf nimmt, und die Mutter muß ihn belehren, daß es die Katze der Tochter sei, und er nicht sagen dürfe, daß sie ihn am liebsten habe.

Neben dem Korb sitzt die Tochter, bohrt in das Kopf feil der Katze Löcher und erklärt, daß niemand der Katze etwas zu sagen habe. Der Bruder sagt, sie sei blöd und er wolle auch eine eigene, echte und lebendige Katze.

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