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Erinnerungen an die Petroleumlampen-Zeit

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Nun hielt der Winter breitfiißig Einzug. Er streute erst einige Eiskörnchen über die Straßen, warf sie dann handvoll weise vor sich her und schüttelte schließlich ganze Säcke davon über die Dachfirste.

Drei Tage vor dem Christfest kam bei der Familie Jennik eine Rarität ins Haus, ein lebendes Spiel, eine einmalige Unterhaltung: der Weihnachtskarpfen wurde besorgt. Die Buben machten jetzt Fäuste in den Taschen, denn es war so kalt, daß der Schnee nur in ganz feinen Stäubchen vorüberwehte und die Gesichter der Marktfrauen auf dem Platze bereits einen bläulichen Schimmer hatten. Eine Dame mit dunklem Samtbarett und Zobelmuff ging an ihnen vorbei, gefolgt von einem Diener, der eine sehr schöne Tanne trug, die gut und gerne zweieinhalb Meter maß. „Mit der würden wir bei uns direkt durch die Zimmerdecke stoßen", sagte Lutz respektvoll und dann etwas leiser, mit dem Daumen auf die Dame weisend: „Das ist die Bourgeoisie!" Er hatte dieses Wort öfters vom Vater gehört und sich darunter immer eine vornehme weibliche Person vorgestellt.

Bei den Fischbottichen musterte Frau Jennik mit Kennerblick die plätschernden Tiere. Der Fisch durfte nicht zu teuer sein und doch groß genug, um die stets aufnahmefähigen Mägen der Kinder einigermaßen zu füllen. Schließlich war ein passender Karpfen ausgewählt, herausgeholt, in einen doppelten Bogen Zeitungspapier gewickelt und in der Einkaufstasche verstaut. „Jetzt müssen wir aber rennen!" hetzte Lutz; und so liefen und liefen sie, daß die Mutter gar nicht mehr Schritt halten konnte. Als sie die Wohnung erreicht hatten, holte Frau Jennik so wie sie war in Hut und Mantel eilig den Waschtrog herbei; die Kinder gössen klares, kaltes Wasser hinein, und dann platschte der prächtige Grauling dazu.

„Er lebt noch", stellten alle erleichtert fest, wenngleich der Fisch noch eine Weile auf der Seite lag und erst nach und nach wieder merkbar zu atmen begann. Nach einer Viertelstunde aber schwamm er bereits wieder flott in dem Troge umher. „Er hat seinen Seitensprung schon vergessen", sagte Gustav. Nach dem mageren Mittagessen setzten sich die Kinder zu dem Karpfen und beobachteten den silbrigen Bauch, die flachen gelbberingten Augen und das in vorwurfsvolle Falten gelegte Maul. Georg faßte nach seiner Schwanzflosse und sogleich fuhr der Fisch mit wilden blinden Sätzen durch sein hölzernes Quartier, sodaß das Wasser hoch und gischtig aufspritzte. „Hoooh!!" schrien die Buben und „huuuhü". Immer wieder und wieder probierten sie das Spiel, während der Karpfen in Panik in der Wanne herumsauste. Die Kinder konnten nicht genug kriegen, sie kreischten in einem fort, das Wasser schoß in kleinen kalten Fontänen empor, und der Kleinste fiel vor Entzücken fast von seinem Stühlchen.

„Jetzt ist es genug", sagte schließlich die Mutter, „sonst mach' ich den Fisch noch heute tot!". Das wirkte, und sie waren mit einem Male ganz ruhig, sodaß man eine Maus hätte laufen hören.

Am 24. Dezember zu Mittag ver-/\ kroch sich die Sonne hinter ei-J. JLnem grauen Eisschleier, der alsbald in feinen Schneebahnen vom Himmel zur Erde herabsank. Gustav kauerte mit steinschwerem Herzen auf einem Sessel. Wenn es diesmal wieder so sein würde wie im vergangenen Jahr? Da hatten sie keinen Christbaum gehabt; nur er hatte einen aufgelesenen Tannenzweig in ein Holzklötzchen gerammt, an bunten Wollfäden ein paar Zuckerstücke aufgehängt und so „Heiligabend" markiert. Es war aber trotz dieser Mühe kein richtiges Weihnachten gewesen. „Kinder", sagte Frau Jennik plötzlich, indem sie sich einen Wollschal umwarf, „ich gehe jetzt einen Baum holen." Das erlösende Wort war gefallen und Gustav hopste vom Sessel. „Ich gehe mit!"

In den Straßen waren fast keine Menschen mehr zu sehen; es dämmerte schon und die große stumme Feierlichkeit der anbrechenden Nacht dehnte sich mit ihrem Kristallhauch immer tiefer und immer weiter und immer voller aus. Bei den abgeräumten Bretterbuden auf dem Markt wurden schon die letzten Leuchten von den Haken genommen. Gerade wollte ein Christbaumverkäufer seine übriggebliebenen Waldschößlinge auf einen Schubkarren laden und wegführen, als Frau Jennik und Gustav atemlos ankamen.

„Wäre wohl noch ein kleiner billiger Baum zu haben?" Und der Händler, der mit seinem grauwuchtenden Mantel und seinen riesigen Filzstiefeln auf Gustav wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich wirkte, suchte unter den restlichen Bäumen ein schmächtiges Tännchen aus, das er den beiden, nachdem er noch einen mitleidigen Blick in die abgehetzten

Gesichter getan hatte, umsonst überließ. Frau Jennik verschluckte sich fast beim „Danke vielmals!" und stapfte dann mit Gustav, der sich den Baum beglückt unter den Arm klemmte, durch den Schnee nach Hause.

Nun allerdings, da alles unter Dach und Fach war, kam eigentlich das Ärgste, Gefürchtete, Grauenerregende - der Karpfen sollte geschlachtet werden! Als Gustav und Georg das gezückte Messer in der Hand der Mutter erblickten, fingen beide wie auf Kommando zu weinen an, und Lutz betrachtete mit bebenden Mundwinkeln den zum Tode verurteilten Fisch.

„Laß ihn noch leben!" jammerten die Buben im Chor. „Bitte, Mutter, nur eine Stunde noch!"

„Das geht doch nicht", argumentierte die Mutter, „wenn wir fortwährend warten und warten, ist schließlich Weihnachten vorbei!"

Inzwischen schwamm der Karpfen ruhig unter den angstvoll-gespannten Blicken der Kinder in seinem Bottich umher. Als die Mutter mit den Händen in das Wasser griff, um das Opfer herauszuholen, hielt Georg sie am Gelenk fest: „Nein!!" Frau Jennik schob die kleine Kinderhand von sich und sah ihre Buben der Reihe nach an: „Also, wie stellt ihr euch das nun vor? Essen wollt ihr den Fisch, aber töten soll ich ihn nicht?"

„Ich werde nichts essen", maulte Georg weinerlich. Aber schließlich ergab man sich in das Unvermeidliche. Der dicke Leib wurde aus dem Wasser genommen und mit einigen Schlägen auf den Kopf gebändigt. Die Buben hielten sich die Augen und Ohren zu; ja, Gustav war sogar aus der Küche gelaufen; und doch traf ihn jeder Hieb, den der Fisch erlitt, wie ein Keulenschlag. Schließlich - ein allerletzter Treffer und es war geschehen und der Karpfen lag still und mit starren Glotzaugen und aufgesperrtem Maul auf dem Brett.

Haben die Kinder lange um den Karpfen getrauert? Natürlich haben sie nicht - denn nun mußte der Baum geschmückt und die Kerzen entzündet werden. Die Familie stellte sich davor auf, man sang „Es ist ein Ros' entsprungen", die Buben überzählten beiläufig den Behang und teilten ihn im Geiste unter sich auf, und die zweite Strophe wurde nur mehr respektlos abgerasselt, wie die Zugkette an einer Standuhr. Nach einiger Zeit war auch der in gleichmäßige Stücke zerteilte Fisch paniert und gebraten, und für jeden eine gewaltige Schnitte Weißbrot dazugelegt. Der Baum aber stand mit seinem magischen Glänze mitten im Zimmer, und die Kinder blickten wie verzaubert nach ihm wie nach einem Heiligtum, während die Trauer um den Karpfen längst im Meer dieser neuen Seligkeit versunken und vergessen war.

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