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Das neue Proletariat

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Was schon lange in der öffentlichen Meinung unterschwellig brodelt, ist nun plötzlich in den Mittelpunkt des Wiener Wahlkampfes mit voller Wucht gerückt: die rund 230.000 (zählt man auch die ohne Arbeitsbewilligungen Beschäftigten dazu, dann sind es an die 300.000) in Österreich, vornehmlich in den Großstädten, beschäftigten Gastarbeiter, Österreichs neues Proletariat.

Wiens neuer Bürgermeister Leopold Gratz machte mit Äußerungen, die leider sozialdemokratisches Ethos schmerzlich vermissen ließen, einen Anfang. Zuletzt meinte er in einem Interview mit dem „Kurier“: „Wir werden das Gastarbeiterproblem lösen. Dazu wünsche ich mir ähnlich strenge Vorschriften wie bei der Maul- und Klauenseuche.“

Ein häßliches Vorurtedl, das gastarbeitende Jugoslawen und Türken wenig von Tieren unterscheidet? Wir wollen hoffen, daß dies Gratz nicht so gemeint hat.

Daß die Gastarbeiterfrage gerade in Wien virulent wurde, ist keineswegs verwunderlich. In der Bundeshauptstadt offenbaren sich die Probleme der Gastarbeiter in exemplarischer Weise, bei der Unterbringung ebenso wie am Arbeitsplatz. Die Gastarbeiter, vornehmlich Jugoslawen, wohnen hauptsächlich in Altbauten aus der Gründerzeit rund um die Innenstadt. Viele Wiener sind längst aus den Häusern gezogen, an deren Mauern sich Tag und Nacht die Wellen des Verkehrslärms brechen. Die sanitären Anlagen dieser Mietshäuser sind meist völlig unzureichend; in die Hinterhöfe dringt nur selten ein Sonnenstrahl.

Seitens der Rathausverwaltung, die selbst Tausende von Gastarbeitern beschäftigt, gibt es nichts, was man „Leitlinien“ zur Beschäftigung von Gastarbeitern nennen könnte. Es gibt keine Vorstellungen darüber, wie man die Gastarbeiter menschenwürdig unterbringen will, wie verhindert werden soll, daß in bereits

überlasteten Branchen und Bezirken weitere Gastarbeiter zuwandern. Die Wiener Rathausverwaltung überläßt dieses Problem allein der Wirtschaft, von der sie offenbar hofft, daß diese drgendeinmal zur Auffassung kommt, daß es günstiger ist, statt Gastarbeiter moderne Maschinen zu beschäftigen.

In sehr vielen Bereichen sind solchen Rationalisierungsmaßnahmen freilich enge Grenzen gesetzt. Überdies geht die verfügbare Zahl österreichischer Arbeitskräfte ständig zurück. Längere Ausbildungszeiten, ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben und Arbeitszeitverkürzungen verschärfen den Mangel. Jeder zusätzliche Urlaubstag kostet rund 25.000 Arbeitskräfte. Jede Stunde, um die die Arbeitszeit wöchentlich gekürzt wird, ist vergleichbar mit dem Ausscheiden von rund 100.000 Erwerbstätigen.

In Österreich werden also weiterhin Gastarbeiter aufgenommen werden müssen, auch wenn zu Recht darüber geklagt wird, daß bei der „sozialen Infrastruktur“ — sprich Schulen, Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Wohnraum — in einigen Gebieten längst die Grenze der Belastbarkeit errreicht ist. Die Probleme, die so entstehen, können allerdings nicht dadurch gelöst werden, daß man sie mit Demagogie behandelt. Helfen können nur eine forcierte Rationalisierung — die durch die Stabilisierungsmaßnahmen allerdings derzeit stark behindert wird — und einer Erhöhung der Zahl der österreichischen Arbeitskräfte. Nicht eine Einschränkung des Zustroms an Gastarbeitern mit administrativen Mitteln, sondern eine Verringerung des Bedarfs an Arbeitern aus dem Ausland muß das Ziel sein.

Wirtschaft und Staat haben längst noch nicht alle Möglichkeiten dazu genutzt. Viele Rentner und Frauen, die sich nicht ausgelastet fühlen, würden gerne eine Tätigkeit aus-

üben, wenn die Arbeitszeiten ihren Bedürfnissen besser angepaßt würden. Auch eine attraktivere Gestaltung der Arbeitsplätze würde viele Frauen dazu ermuntern, ihr bloßes Hausfrauendasein aufzugeben. Doch wer sich am Herd langweilt, den kann ein Fließband auch nicht reizen. Attraktiv ist, wie man aus zahlreichen Studien weiß, die Arbeit im Team. Doch Gruppenarbeit an Stelle des Fließbands ist in Österreich noch wenig verbreitet.

Auch die im Vergleich zu anderen Ländern recht dürftige Ausstattung mit öffentlichen und betrieblichen Kindergärten hindert viele Frauen daran, wenigstens für Stunden der Küche zu entfliehen. Daß ein zusätzliches Leistungsangebot durch den Fiskus oder durch Kürzungen von Rentenbezügen nicht bestraft werden darf, versteht sich von selbst.

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