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Diskriminierte Gastarbeiter

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Man schätzt ihre Zahl auf 98.000: Die ausländischen. Gastarbeiter und ihre Angehörigen in Wien, unterge- bnacht vor allem in teuren Massenquartieren, zumeist vergeblich Anschluß suchend an ihre österreichischen Arbeitskollegen. Offiziell haben rund 30.000 eine Arbeitsbewil- liigung, doch rund 50.000 sind nach Schätzungen des Wiener Rathauses beschäftigt. Daß wahrscheinlich ein hoher Prozentsatz für immer in Wien bleiben wird, bereitet den politischen Parteien Kopfzerbrechen. Denn alle Bemühungen um eine politische Integrierung sind vergeblich, wenn beispielsweise der Betriebsrat den unglücklichen Kollegen noch eine halbe Stunde vor dem Werbegespräch als „Tschusch“ tituliert h’at.

In wenigen Jahren wird zumindest jeder Zehnte von rund 780.000 Beschäftigten in Wien ein Gastarbeiter sein. Das ist ein Anteil, der politisch bereits mehr als relevant ist. Doch es fällt schwer, in den Betriebsgruppen Sympathie für die Gastarbeiter zu schaffen: Sie bringen meist höhere Arbeitsmoral und ungewohnte

Lebensgewöhnhedten mit, sie beherrschen unsere Sprache nicht und werden oft schikaniert oder verspottet. Sie sind freundlich und ernten doch immer Wieder Ablehnung. Dann resignieren sie und wollen eben nur noch Geld verdienen.

In der Wiener SPÖ hat man die politische Gefahr erkannt: Da die meisten Gastarbeiter aus Diktaturen stammen, könnten sie auch bei uns durch radikale Gruppen angespro- werden. Man will ihnen daher lieber am linken Flügel der SPÖ eine neue Heimat bieten. Aber die menschlichen Vorurteile im unteren Parteivolk verhindern eine politische Assimilation.

Durch verschiedene Maßnahmen sucht die Parteispitze reglementierte Gruppenbildungen der Gastarbeiter zu verhindern. Bürgermeister Slavik hat schon dm Februar angekündigt, die Gemeinde werde keine selbständigen Gastarbeatarimstitutionen unterstützen. Die Jugoslawen, Griechen und Türken sollten menschlich integriert werden, unsere Sprache lernen, ihre Kinder in städtische Kindergärten und Schulen schicken. Man fürchtet, die Gastarbeiter nicht „in den Griff“ zu bekommen.

Versuche mit Meinungsumfragen waren nicht sehr erfolgreich, denn die ausländischen Arbeitskräfte bemühen sich das zu sagen, wovon sie annehmen, daß man es hören will. So antworteten 76 Prozent der Gastarbeiter mit „nein“ oder gaben ausweichende Antworten, als man sie fragte, ob sie einen gleich guten Arbeitsplatz in Deutschland anrueh- men würden, wenn der Verdienst um 20 Prozent höher wäre.

Wie in der Monarchie

80 Prozent der Gastarbeiter sind verheiratet, drei Viertel davon haben den Ehegatten mitgebracht oder nachkommen lassen. In der ÖVP rechnet man mit einer Ansiedlung ähnlich wie in der Zeit der Monarchie und glaubt, daß diese Zuwanderer — einem totalitären Regime soeben entkommen — nicht unbedingt mit einem sozialistischen Österreich vom Regen in die Traufe geraten wollen. Im Wiener Gemeinde rat appellierte auch kein Geringerer als Dr. Heinrich Drimmel: „Die Väter dieser Arbeiter haben Wien so gut gebaut, ja sie haben Wien mit ihrem Leib und Blut verteidigt. Nichts ist spießbürgerlicher, als Menschen mit einer anderen Sprache und anderen Sitten, die sich oft schwer tim, in jenem Ton anzufahren, den wir Wiener manchmal anschlagen.“

„Gastarbeiter sind unsere Helfer für weiteren Aufschwung“, schreibt auch die sozialistische „Arbeiterzeitung“. Und die Aversionen im Parteifußvolk werden vom SP-Zen- tralorgan bedauert: „Die Abneigung gegen die fremd scheinenden Gäste, die in Wien arbeiten, macht sich mitunter in häßlichen Worten Luft. .Kameltreiber“ ist eines davon, .Tschuschn“ ein anderes.“

Und weil nichts zu helfen scheint, veröffentlichte die „AZ“ den erschütternden Leserbrief einer Jugoslawin, der mit den Worten schließt: „Wir sind nicht einmal tausend Kilometer von Wien geboren. Und deshalb will uns keiner haben, keiner neben uns stehen, keiner grüßen. Ich klage nicht für uns. Aber manchmal weine ich wegen der Kinder.“

Wien braucht mehr Arbeitskräfte. Ohne Zuwanderung wäre in 75 Jahren der letzte Wiener Arbeitnehmer in Pension oder gestorben. Die Zahl der jährlich zusätzlich notwendigen Pendler oder Gastarbeiter wird auf 20.000 geschätzt. Gelingt es nicht, diesen Stand zu erreichen, sind schwere Folgen für unsere Wirtschaft zu erwarten. Schon jetzt fehlen in Wien 70.000 Arbeitskräfte. Die Bevölkerung muß umdenken und es den Gastarbeitern leichter machen, in Wien Fuß zu fassen. Es ist ein glücklicher Zufall, daß in dieser Frage die Wünsche der politischen Parteien mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten ident sind…

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