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Das polnische Exempel

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Was sich seit Dezember vergangenen Jahres an der polnischen Nordseeküste ereignet, ist mehr als die durch Streiks und Demonstrationen sichtbar gewordene Empörung der Arbeiter wegen zu geringer Löhne, wegen schlechten Arbeitsklimas und unzumutbarer hygienischer Einrichtungen — es ist im Grunde das Debakel sozialistischer Wirtschaftspolitik schlechthin. Selbst wenn sich die Wogen wieder beruhigen werden, sei es, weil Konzessionen von Seiten der Partei die Arbeiter milder stimmen, sei es, weil der Druck der Macht über den Freiheitswillen obsiegt, läßt sich das grundsätzliche Desaster des kommunistischen Systems nicht mehr aus der Welt schaffen. Da helfen weder die Warnungen vor einer Wiederholung des Prager Frühlings in Polen, wie sie in den letzten Tagen von kommunistischen Parteiorganen erhoben wurden, noch der Hinweis, daß für die Mißstände das sozictiistische System als solches nicht verantwortlich gemacht werden könne.

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Was sich seit Dezember vergangenen Jahres an der polnischen Nordseeküste ereignet, ist mehr als die durch Streiks und Demonstrationen sichtbar gewordene Empörung der Arbeiter wegen zu geringer Löhne, wegen schlechten Arbeitsklimas und unzumutbarer hygienischer Einrichtungen — es ist im Grunde das Debakel sozialistischer Wirtschaftspolitik schlechthin. Selbst wenn sich die Wogen wieder beruhigen werden, sei es, weil Konzessionen von Seiten der Partei die Arbeiter milder stimmen, sei es, weil der Druck der Macht über den Freiheitswillen obsiegt, läßt sich das grundsätzliche Desaster des kommunistischen Systems nicht mehr aus der Welt schaffen. Da helfen weder die Warnungen vor einer Wiederholung des Prager Frühlings in Polen, wie sie in den letzten Tagen von kommunistischen Parteiorganen erhoben wurden, noch der Hinweis, daß für die Mißstände das sozictiistische System als solches nicht verantwortlich gemacht werden könne.

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Alle Revolutionen im Ostblock, vom Arbeiteraufstand in der DDR im Jahre 1953 über die Erhebungen in Polen und Ungarn bis zum Prager Frühling im Jahre 1968, haben ihre Wurzeln im ökonomischen Bereidi, womit sie eine These Marxens, wenn audi mit umgekehrten Vorzeichen, bestätigen. Zu diesen ökonomischen Auslösungsmomenten traten dann die Jahre hindurdi aufgestauten Haßgefühle gegen das kommunistische Regime mit seinen Freiheitsein-sdiränkungen im eigenen Land und gegen die Sowjetunion als die große Unterdrüdcerin nationalen Eigenlebens hinzu. Von den Arbeitern wechselte deshalb die Führung zu den Intellektuellen über und bot den Sowjets und ihren Erfüllungsgehilfen in den Satellitenstaaten den Vorwand, die Revolution zur Konterrevolution zu stempeln, die von ausländischen Agenten provoziert worden sei.

In Polen gesdiah nun etwas, das die kommunistischen Machthaber in arge Verlegenheit brachte. Keine anderen Gruppen, sondern allein die Arbeiter der Werften, Verkehrsbetriebe und Fabriken in Danzig, Stettin, Gdingen und Elbing probierten den Aufstand und was sie an Beschwerden vorbrachten, enthüllte Zustände, für die sich jedes kapitali-stisdie System zutiefst sdiämen müßte: Mangelnde Sicherheit und Hygiene an den Arbeitsstellen, keine Schutzkleidung und keine Zuschläge für gesundheitsschädigende Arbeit, keine warmen Getränke bei Außenarbeiten sowie körperlidie Überlastung der in Arbeit stehenden Jugendlidien und Frauen.

Das aber, worüber sidi die Arbeiter in stundenlangen Diskussionen nodi mehr empörten als über die miserablen Arbeitsbedingungen und die sdiledite Entlohnung, ist die Mißachtung der arbeitenden Menschen von Seiten der Partei- und Staatsbürokratie. Die Arbeiter, die dem Programm nadi die Stütze der kom-munistisdien Gesellschaftsordnung sein sollen, werden als Menschen zweiter Klasse angesehen, als eine Art APbeitstiere. Wenn sich ein Arbeiter beispielsweise weigert, Überstunden zu machen, dann ist er politisch verfemt und muß mit seiner Entlassung rechnen. Die Gewerkschaften, deren Aufgabe es wäre, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, sprechen immer von der Leistung gleidi den Unternehmern in den kapitalistischen Staaten, nicht aber von höheren Löhnen oder gar Mitbestimmung. Der Geist dieser Gewerkschaften werde, so klagten die polnisdien Arbeiter, am besten dadurch charakterisiert, daß sie sidi nicht an die Spitze der Streikenden stellten, sondern verlegen beiseite standen.

Die Forderungen der streikenden Arbeiter enthielten vieles, was audi die Intellektuellen in Prag erkämpfen wollten: Mehr Information, mehr Mitspracherecht, weniger Bürokratie, weniger sdiöne Worte, dafür aber mehr Taten. Was ihre ureigenen Interessen betrifft, so forderten sie neben Preissenkungen und einer Verbesserung der Wohnungsverihält-nisse die Angledchung des Lohn- und Gehaltssystems der Industniearbeiter an die Verdienste der Parteilbeamten, was nichts anderes heißt, als die Forderung nadi Beendigung der Klassengegensätze.

Hier aber kommen wir wieder zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück. Mit Streiks, Demonstrationen und dem Opfer vieler Toten wollten die Arbeiter im kommunistisdien Polen nur das durchsetzen, weswegen die Kommunisten in aller Welt zur Weltrevolution aufrufen. Die kommunistischen Systeme sind jedoch dank ihrem Wirtschaftssystem nicht imstande, ihren eigenen Arbeitern wenigstens das zu gewähren, was in den westlichen Industriestaaten eine Selbstverständlichkeit geworden ist, über die es nicht einmal mehr eine Diskussion gitot. Und wie aus einer tibetischen Gebetsmühle kommen aus den kommunistischen Ländern immer die gleichen Revolutionsphrasen, die keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit haben. Die polnisdien KP-Führer geben den Arbeitern wieder nur vage Ver-sprediimgen und schöne Worte und betteln um Zeit. Dodi die Zeit nützt im Grunde nichts, weU das kommu-nistisdie Wirtschaftssystem einfach ndcht in der Lage ist, die Probleme der modernen Industriegesellsdiaft zu lösen. Der Marxismus als eine brauchbare Theorie zur Lösung von Wirtschaftsproblemen ist tot. Er ist heute nur noch eine Religion und zwar eine inhumane, weil er Andersdenkende mit Gewalt zwingen will, an seine vernunftwidrigen Dogmen zu glauben. Die Zeit, die sidi die polnischen KP-Funktionäre von ihren Arbeitern erbetteln, nützt deshalb höchstens dazu, den Terror wieder zu festigen, doch Erfolge durdi Terror werden in den Oststaaten zunehmend problematischer, seit die Arbeiter ihr Psiradies immer mehr als Hölle empfinden.

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