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Denkmal Österreichs nach '45

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Wir standen damals am Anfang unseres Studiums und hatten von diesem Buch gehört, in dem einige unserer Lehrer schrieben. Es war zwei Jahre nach dem Staatsvertrag, zwei Jahre nach der triumphalen Eröffnung von Burg und Oper, ein Jahr nach dem Aufstand in Ungarn, im Gründungsjahr der Europäischen Gemeinschaft. Für uns, die im Krieg Geborenen, war Österreich schon eine Selbstverständlichkeit, wir kannten nichts anderes.

Der Hofmannsthalsche Satz, Österreich sei zuerst Geist geworden in der Musik und habe in dieser Form die Welt erobert, war unser Matura-Thema. Aber bedrängte uns da in dieser hoffnungsvollen, aufwärtsstrebenden Zeit nicht die eine Frage, warum es so und nicht anders über Österreich und Europa gekommen war in den Jahren von 1914 bis 1945? Die Antwort würde, ja müßte in die Zukunft Österreichs, in unsere eigene, eingebracht werden.

Es gab 1957 noch sehr wenig, was uns mit diesen Fragen weitergeholfen hätte. Es gab allerdings das „Spectrum Au-striae". Während sich die Deutschen, die „Westdeutschen", schuldbewußt mit ihrer Geschichte abmühten und an allen Ecken und Enden die Fratze des Nationalsozialismus hervorlugen sahen, glaubten wir Österreicher es besser zu haben: Humanitas Austriaca.

Friedrich Heer schrieb davon im „Spectrum". Es war ein Buch der Zuversicht, der Selbstbehauptung und der Selbstbestimmung. Es war ein erstes Denkmal, das die von den politischen und geistigen Brüchen der ersten Jahrhunderthälfte gezeichnete Generation sich nach dem Krieg setzte, die auf der Suche war nach dem im raschen Wandel der Zeiten Beständigen, Dauerhaften. Das „Spectrum" war somit auch ein Buch der Bewahrung und Bewährung. Darin wohl lag seine Wirkung auf die ältere Generation.

Wir aber hofften, im „Spectrum" zu finden, was uns die dürre Faktizität der Schul- und Handbücher verweigerte: Deutungen und Meinungen, die nicht zurückscheuten, die Fäden der Gegenwart, zumal der Zeitgeschichte, aus dem Gewebe der Geschichte herauszuziehen. Und wir hofften, im „Spectrum" Andeutungen für die Zukunft Österreichs in Europa zu finden. Humanitas Austriaca? Heute müssen wir uns fragen, ob nicht damals schon die Aufschüttung für die „Insel der Seligen" begonnen habe!

So ist das „Spectrum", das uns heute in einer neuen, Uberarbeiteten Ausgabe vorliegt, längst zu einem historischen Dokument geworden. Nicht wenige der Autoren, zumal die Historiker Heinrich Benedikt (geb. 1886), Friedrich Engel-Janosi (1893-1978) und Hugo Hantsch (1895-1972), gehören einer Generation an, für die das Habsburger-reich noch nicht Mythos, sondern Realität war, eine über die Grenzen des heutigen Österreich hinausreichende, erfahrene und erlittene.

Gewiß, seit 1957 ist eine Unzahl von Fakten durch Dissertationen und Pu„So ist das .Spectrum' längst zu einem historischen Dokument geworden"

blikationen zutage gefördert worden, und dies trifft insbesondere auf die Zeit zwischen den beiden Kriegen zu, die man als „Zeitgeschichte" zu Ende der fünfziger Jahre erst so recht eigentlich zu erforschen begann. Die Beiträge von Adam Wandruszka und Walter Goldinger zählen zu den Pionierleistungen.

Aber wo sind unter den vielen Publikationen unserer Tage jene Darstellungen, in denen sjch die Geschichtswissenschaft wie noch im „Spectrum" zu jener Aufgabe bekennt, die ihr in der europäischen Kultur einstmals jene Bedeutung einräumte, von der sie heute noch zehrt, nämlich jene der Geschichtsschreibung?

Im neuen „Spectrum" hat es nun Otto Schulmeister selbst unternommen, die politischen und geistigen Entwicklungslinien Österreichs seit 1945 zu zeichnen. Was ihm 1957 als Kontinuität erschien, hat sich inzwischen verflüchtigt, aufgelöst im und durch den „Anschluß an das Industriesystem", den Hans Seidel beschreibt und wozu Erich Bodzenta die soziale Komponente beisteuert.

Aber die neue Konstanz und Identität, von der wir hier lesen, das „Naturvertrauen" in die Zeit, die ja unsere ist seit 1957,1955 oder 1945, sind sie nicht mit uns und in uns selbst gewachsen?

So ist das „Spectrum" längst zu einem historischen Dokument geworden. Viktor Zuckerkandl (1896-1965) schrieb seinen Aufsatz über den „Geist der Musik" vor der Mahler-Renaissance der sechziger Jahre, vor der Neubewertung der Wiener Schule. Gerhart Baumann und Friedrich Torberg (1908-1979) orteten die österreichische Literatur, als Robert Musil und Joseph Roth noch nicht entdeckt waren, die Bachmann, Lavant und Aichinger, Artmann, Bernhard und Handke noch nicht Klassiker des neuen, unseres Osterreich waren. Und Hans Sedlmayr umriß die Konturen der bildenden Künste, als die Kokoschka und Wo-truba, Fuchs, Hundertwasser und Rainer noch nicht in die Ahnengalerie österreichischer Künstler aufgenommen waren.

Vielleicht wäre es lohnenswert gewesen, die Revision des Österreich-Bildes, die Fritz Fellner als einziger Neuankömmling unter den Autoren in der internationalen Geschichtswissenschaft aufspürt, auch Musik, Literatur und bildender Kunst zuteil werden zu lassen.

So bringt das neue „Spectrum", zumal mit Otto Schulmeisters neuen Beiträgen, Andeutungen für eine Revision des alten Österreich-Bildes. Sie fortzusetzen, ist eine Herausforderung der Generation, die sich in Osterreich seit 1945 sicher und heimisch fühlt. Vielleicht allzu sicher und allzu heimisch in unserer Geschichte und Gegenwart. Was wird die Zukunft bringen?

SPECTRUM AUSTRIAE. Österreich in Geschichte und Gegenwart. Hg. Otto Schulmeister, Johann Christoph Allmayer-Beck, Adam Wandruszka. Verlag Molden. Wien-München 1980,440 Seiten, 76 Abb., 27 Karten, öS 440,-

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