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Der Sündenbock

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Zwischen 1956 und 1972 stieg in Österreich der Bestand von Personenkraftwagen von rund 188.000 auf rund 1,460.000, also mehr als das Siebenfache. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Fahrkilometer aller österreichischen Verkehrsmittel (ohne innerstädtische Verkehrsmittel und ohne Luftverkehr) auf den inländischen Verkehrswegen um 369 Prozent und je Einwohner um 301 Prozent, wohingegen

in diesem Zeitraum das reale Bruttosozialprodukt je Einwohner nur um 105 Prozent und der private Konsum je Einwohner um 90 Prozent wuchs. Die Zahl der Personenkilometer je Einwohner nahm um 180 Prozent und die der beförderten Personen um 158 Prozent zu. Die Zahl der Fahrkilometer der Fahrzeuge wuchs damit doppelt so schnell wie das Bruttosozialprodukt je Einwohner, die Zahl der Personenkilometer knapp eineinhalbmal und die Zahl der Beförderungsfälle l,3mal so schnell wie das Bruttosozialprodukt je Einwohner. Dies bedeutet, daß in Österreich der Bedarf an Verkehrsmitteln erheblich kräftiger zunahm als der Beförderungsbedarf.

Seit Beginn dieses Jahres sinken die Zuwachsraten der neuzugelassenen Personenkraftwagen in Österreich. Wurden in den ersten sieben Monaten *Öes Vorjahres noch insgesamt 16.100 fabriksneue Personenkraftwagen in den inländischen Verkehr geschubst, so waren es in der Zeit von Jänner bis Juli 1973 nur mehr 14.200 Personenkraftwagen. Signalisiert dieser Rückgang um immerhin 12 Prozent eine Tendenz zur Abkehr vom „Götzen“ Auto? Es mehren sich doch die Anzeichen, die dem Auto auf rationaler und emotionaler Ebene steigenden Unwert zusprechen!

In den Augen sehr vieler ist das Auto geradezu zur Inkarnation des Umweltfeindlichen geworden. Dabei

werden insbesondere zwei Gruppen der durch das Auto verursachten Umweltschäden hervorgehoben: • einerseits schädigt das Auto die Umwelt durch seine Herstellung und Beseitigung, indem für die Auto-produktion außerordentlich große Mengen von Material verbraucht und diese Materialien bei der Beseitigung ungenügend rezyklisiert werden. Dieser Materialverschleiß ist vor allem bedingt durch die ungenügende Lebensdauer der Automobile

und fällt besonders ins Gewicht bei gewissen Metallen, deren Lagerstätten bei Fortsetzung der bisherigen Verbrauchsentwicklung schon in einigen Jahrzehnten erschöpft sein dürften;

• anderseits und in viel auffallenderer Form schädigt das Auto die Umwelt durch seinen Betrieb: Es ist lärmig, produziert schädliche Abgase, verbraucht unverhältnismäßig viel Energie, belastet indirekt die Gewässer durch Streusalz und öhin-fälle und die Landschaft durch den Straßenbau. Obwohl die Autoprodu-zenten unter dem Druck neuer Gesetze gewisse Verbesserungen am Auto durchführen müssen, sind mindestens auf den Sektoren Lärmbelästigung und Energieverbrauch noch keine wesentlichen Veränderungen in Sicht.

In Kreisen der autoproduzierenden Industrie gibt man sich jedenfalls vordergründig zweckoptimistisch. Man glaubt an einen bereits kurzfristigen Abbau der aktuellen Energiekrise ebenso wie an den Trend zum Zweitwagen, will also vorderhand von einer Sättigungsgrenze auf der Abnehmerseite noch nichts gemerkt haben. Darüber hinaus meint man, daß die Nachfrage in den Ländern der „Dritten Welt“ noch lange vor einem Beginn des Booms steht, so daß man im Gefolge eines steigenden Lebensstandards in den Entwicklungsländern mit einem

anhaltenden Exportzuwachs rechnet. Größere Bedeutung mißt man dem wachsenden „Umweltbewußtsein“ bei der Bevölkerung in den industrialisierten Staaten bei, argumentiert hier aber recht geschickt mit der dialektischen Formel, daß man im Interesse der ärmeren Bevölkerungsgruppen, die sich vielleicht erst jetzt ein Auto leisten können, doch nicht auf „Umweltschutz“ machen dürfe, um so große Bevölkerungsschichten vom Betrieb eines Autos auszuschalten. Diese soziale Komponente des Umweltschutzes, daß er nämlich von Begüterten für Begüterte vertreten werde, unterstützen demnach auch namhafte Vertreter sozialistischer

Parteien in Buropa. Bürgermeister Gratz meint etwa beziehungsvoll, er und seine Partei könnten nicht in die Verketzerung des Autos einfallen, wo es doch jetzt auch das Statussymbol des „kleinsten“ Mannes zu werden beginne. Es scheint fast, als sei auf diesem interessanten Nebenfeld einer globalen Umweltschutzdiskussion tatsächlich noch einiges offen und so merkwürdig das auch klingen mag, eine argumentative Partnerschaft zwischen Autoindustrie und Sozialismus beginnt sich anzubahnen.

Für viele ist allerdings das Auto auch im Hinblick auf die beträchtliche Entfernung zum Arbeitsplatz ein unentbehrliches Verkehrsmittel geworden, dessen Verwendung auch bei empfindlicher Erhöhung der Autobetriebskosten nicht eingeschränkt werden kann. Für andere wieder bedeutet der Betrieb eines (besonders kostspieligen und treib-

stofffressenden) Gefährts mehr Prestigegewinn als irgendein anderes Statussymbol, Autokostenerhöhungen werden von dieser Gruppe zähneknirschend akzeptiert; Konsequenzen in Richtung Verkauf oder Einschränkung werden nicht ins Kalkül gezogen.

Diese Kostenunempfindlichkeit weiter Kreise von Autobenützern dürfte trotz gesteigertem Umweltbewußtsein, der Benzinverknappung und der Kostenerhöhung beim Betrieb von Kraftwagen wenig an der lebhaften Nachfrage nach Autos ändern, die zur Zeit fast ausschließlich durch die generell unsichere Konjunktursituation gebrochen wurde. Dazu kommt, daß die äußerst problematische Situation der öffentlichen Verkehrsmittel in fast allen Industriestaaten — und erst recht in Österreich — vielen Verkehrsteilnehmern keinen Ausweg bietet.

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