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Der Wortschieber
Was, Sie haben noch keinen? Sie sind doch jemand, auf den man hört, von dem man liest, dem man etwas abnimmt. Sie halten doch Reden - oder wenigstens Ansprachen. Sie verkehren doch in den Kreisen, den politischen, den künstlerischen, den wissenschaftlichen? Nein, tun Sie nicht? Na, eben - weil er Ihnen fehlt, der Wortschieber. Ihrer Rede fehlt das gewisse Etwas, der gebildete Haut gout, der wissenschaftliche Touch.
Schaffen Sie sich einen Wortschieber an und Ihr Problem ist gelöst. Mit einem Wortschieber verfügen Sie über ein einmaliges Fremdwort-Repertoire, so einmalig, daß es niemand sogleich verstehen kann. Es ist zudem auch absolut sicher. Sie können die Produkte Ihres Wortschiebers nicht falsch verwenden, Sie erfinden sie nach Bedarf und nur zum sofortigen Verbrauch.
Die Bedienung des Wortschiebers ist einfach-wie sein Aufbau. Er ist nahezu wartungsfrei. Es gibt verschiedene Ausführungen: aus Papier, Kunststoff, gelegentlich Metall. Für die besondere Gelegenheit empfehle ich exotisches Hartholz. Denken Sie bei der Anschaffung Ihres individuellen Wortschiebers stets an die von ihnen bevorzugten Anzugstoffmuster.
Sie wollen wissen, wie so ein Wortschieber funktioniert? Das Grundmodell aller Wortschieber ist, wie die Bezeichnung schon verrät, dem Rechenschieber nicht unähnlich. In einem langen und flachen Quader sind zwei mittelbreite Schienen eingelassen. Darin bewegen sich die Schieber, etwas weniger als ein Drittel der Breite des Gehäuses breit und genau eine Schieberbreite voneinander entfernt. Über den Grundkörper und die beiden Schieber ist das Fenster des Wortschiebers geschoben.
Das Fenster ist das Eigentliche des Wortschiebers, das Herzstück, nein, richtiger, sein Gehirn. In ihm erscheinen bei richtiger Bedienung die Produkte, mit denen Sie künftighin Ihre Rede, Ihren Trinkspruch, Ihre Vorbemerkung, Ihren Kommentar verzieren können. Auf den beiden Schiebern und auf der Brücke dazwischen sind eine, je nach Ausführung unterschiedliche Anzahl von Einzelwörtern aufgedruckt. Luxusausführungen mit Edelmetallintarsien werden in exklusiven Magazinen angeboten.
Auf dem oberen Schieber finden sich die Adjektiva: innovative, partizipative, monokausale, interdependente, assoziative etc.etc. Auf der Mittelbrücke sind die Erst-Hauptwörter aufgereiht: Pilot, Präsenz, Dominanz, Ambivalenz, Brisanz etc.etc. Auf dem unteren Schieber fahren die Zweit- Hauptwörter durch das Wortschieberfenster: Ideologie, Paraphrase, Dichotomie, Kapazität etc.etc. - und vor allem und ganz wichtig: Struktur!
Ich bin ganz sicher, Sie haben schon einmal einen Wortschieber gesehen.
Doch nicht? Aber die Auswirkungen des Wortschiebereinsatzes, die haben Sie doch sicher schon bemerkt.
Und so wird’s gemacht. Nehmen Sie den Wortschieber in die linke Hand (Linkshänder in die rechte), schließen Sie die Augen und verschieben Sie mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand zunächst den oberen Schieber, dann den unteren Schieber und schließlich das Fenster. Gleichgültig, in welche Richtung, egal, wie weit. Stop, jetzt Augen öffnen und - das Ergebnis im Fenster ablesen. -
Was haben wir da? Bravo, bravo: partizipative Dominanz-Paraphrase. Und Sie? Vortrefflich: monokausale Ambivalenz-Ideologie. Sie dahinten, bitte! Köstlich: innovative Präsenz-Dichotomie. Und jetzt bitte noch Sie! Absolute Spitzenleistung: assoziative Polit-Struktur!
Freunde von mir, obwohl sie ihren Wortschieber erst seit kurzem in Gebrauch haben, können sich vor Einla
dungen zu politisch-wissenschaftlichkünstlerischen Symposien gar nicht mehr retten. Freund Franz, bis letzten Sommer noch recht wenig gefragter Gymnasialpädagoge, soll bereits ein Lehrauftrag an einer, auch überregional nicht eben unbekannten Universität angeboten worden sein.
Dieter K. freilich hat den größten Vogel mitten ins Herz getroffen. Dazu hat er sich aber auch nicht mit einem so einfachen wie den eben vorgestellten, dreibahnigen Wortschieber begnügt. Nein, Dieter, korrekt Dr.Dr. Dieter- Thomas K., hat gewagt und investiert: in die neueste Wortschieberentwicklung, den Vierfeldwortkombinationcomputer mit dem doppelten Schütteleffekt.
Wie VICO, so die handelsübliche Bezeichnung, funktioniert, ist Geheimnis mehrerer mächtiger Staaten. Aber wer Verbindungen zu gewissen einflußreichen Kreisen im Ferneren Osten hat, der kann sich Raub-Duplikate verschaffen. Nicht billig, aber weiß Gott wirkungsvoll. Dieters Rede vor der Politischen Akademie startete mit „parteispezifischer Verhaltenserwartung“ und führte in strenger Logik zu „erwartungsverhaltender Parteispezifizierung“.
Er wunderte sich im zweiten Teil über „politakademische Statistikgläubigkeit** und vermißte mehr als einmal „glaubensstatistische Akademiepolitik“. Dafür könne er kein „mehrbödi- ges Basisverständnis“ haben, die Partei müsse wieder, donnerte Dieter nach fast einstündigem Referat, auf den „verständnismehrenden Basisboden“. In seinem Schlußwort, in dem er sich über allzu weit getriebene und
„kulturbeflissene Politikabstinenz“ mokierte, gelang ihm ein Meisterstück an „kleinräumiger Politikbefiissen- heit“.
Was Wunder, wenn ihm schließlich statt eines schnöden Engagements in „beflissenheitsabstinenter Kleinraum- Politik“ die Federführung für alle Teilgebiete einer wahrhaft „raumbeflissenen Kulturabstinenzpolitik“ übertragen wurde. Das war letzten Mai, da kannte ihn noch kaum einer, und was ist er heute - ich brauche ihn nicht vorzustellen, Sie kennen ihn ja alle. GEO
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