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Die „gute“ Gesellschaft

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Die Wiederentdeckung des 19. Jahrhunderts konnte nicht auf sich warten lassen: allerorten suchen und orten Autoren jene geistigen, politischen und künstlerischen Quellen, aus denen unsere heutige Zeit — zeitgenössdschen Redereien zum Trotz — schöpft. Das 19. Jahrhundert begründete und formte alle geistigen und politischen Strömungen, die unsere heutige Unrast ausmachen: den Liberalismus, den Konservatismus, die gegenstandslose Kunst, den Surrealismus.

Gelegentlich wird noch immer die Meinung vertreten, das 19. Jahrhundert wäre so etwas wie ein „finsteres“ Jahrhundert gewesen, ein romantischer „Rückfall“ etwa und seine künstlerischen Ausdrucksformen Plagiate und Kopien. Mag sein, daß Romantik und Historismus hier eine dominante Rolle zugeordnet wird; man übersieht, was aber auch Romantik und Historismus für die Ideologien und künstlerischen Richtungen wurden.

Das Ende des 19. Jahrhunderts wird allgemein als „Belle Epoque“ umschrieben. Jene Zeit, in der das Bürgertum in Europa als Bourgeoisie von fortschrittlich-revolutionärem zum bewahrend-konservativen Element wurde. Eine Zeit, die für Kunst und Ästhetik jede nur denkbare Opfer zu bringen bereit war — und der noch so ziemlich vollkommen der Sinn für die sozialen Nöte und Probleme neuer Klassen und Gruppen fehlte. Die „Belle Epoque“ hat Willy Haas zum Thema eines essayistischen Bilderbogens gewählt. In einer selten gelungenen Bildfolge läßt er die Jahre zwischen 1880 und 1914 kaleidoskopisch abrollen. „Gesellschaftlich“ ist für ihn freilich nur das, was die „gute“ Gesellschaft war, tat und dachte. Die Einengung auf einen modisch-bedingten Termmus ist be-'dauerlkh; wenngleich nicht ohne Reiz. Nach viel Zeitgeschichte und Gesellschaftsphilosophie befreit ein Buch den Geist, der sich schon zwischen den -ismen verloren fühlte. Und macht auch klar, wie sehr Geselligkeit, Mode und Kulturgeschmack Geist und Seele einer Zeit ausmachen — ja vielfach oft das sind, was tradiert wird — lebendiger, bewegter und erinneiungsvoller als manches Trocken-Unvergleichbare. Die reiche Bebilderung macht Willy Haas' Darstellung zu einer berauschenden Szenerie, die nicht unerfüllbare Ansprüche befriedigen will, aber als Lesebuch für amüsierte Nostalgiejünger Anno 1975 zwischen Espressos und Münzautomaten wohltut.

Der schwedische Historiker Herbert Tingsten wiederum analysiert in einer überaus lesenswerten Studie eine der faszinierendsten Gestalten des 19. Jahrhunderts (die überdies einer ganzen Epoche ihren Namen gab): Königin Victoria von England. Tingsten zeichnet das Bild der Monarchin anders als landläufige Untersuchungen: das ist die junge, noch völlig unsichere, plötzlich auf den Thron gerufene 18jährige im Jahre 1837; da die zur Empfindsamkeit neigende Gattin des deutschen Prinzen Albert, die den „Victorianis-mus“ freilich nicht aus Duckmäuserei oder Prüderie für eine ganze Gesellschaft vorlebt, sondern aus zutiefst religiöser und familiärer Haltung; und da ist die verwitwete Monarchin, die mit List und Geschick keinesfalls nur Repräsentationspflichten wahrnimmt, sondern kräftig mit- und der Regierung hineinregiert, die gegen »Ire Promierminister intrigiert und polemisiert und sie mit ständigen' Rücktrittsdrohungen zum Wohlverhalten zu zwingen versteht.

Umgeben von den glänzendsten Figuren des Empire reicht Victoria als royales Denkmal durch mehrere Generationen fast bis ins 20. Jahrhundert hinein. Sie ist aber nicht nur Symbol, sondern auch lebendiges Vorbild für britischen Way of life und für die Lebensart der ganzen zivilisierten Welt im 19. Jahrhundert.

Viktoria war nicht eben das, was man einen einfachen Menschen nennt. Und sie hatte auch nicht annähernd jene Nackenschläge des Schicksals zu ertragen wie Franz Joseph, der einzige Monarch, der noch länger als Victoria regierte. Aber ihr wacher Geist und ihre klare Beobachtungsgabe — wie sie etwa aus den zitierten Briefstellen (an den belgischen König Leopold) hervorgeht — macht klar, was England im 19. Jahr-huhdet^ > zu solcher- b Größe 11 (fareitöfh: 'Such „viktorianischer“ Arroganz)' verführte: Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Victoria heißt ja: Sieghaftigkeit.

DIE BELLE EPOQUE. Von Willy Haas, Desch-Verlag, München, 389 Seiten, 428 Abbildungen, 16 Vierfarbtafeln.

KÖNIGIN VICTORIA UND IHRE ZEIT. Von Herbert Tingsten, Georg D. W. Callway, Verlag München, 416 Seiten, DM 36.—.

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