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Eine barocke Romanfigur

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Aus Güterslohs Nachlaß stamnnt nebenstehende P-orträtskizze, die an die farbige Persönlichkeit des kürzlich im 97. Lebensjahr verstorbenen Verlegers und Schriftstellers erinnert.

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Aus Güterslohs Nachlaß stamnnt nebenstehende P-orträtskizze, die an die farbige Persönlichkeit des kürzlich im 97. Lebensjahr verstorbenen Verlegers und Schriftstellers erinnert.

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Freund Haybach ist eine Romanfigur. Was ist eine Romanfigur? Eine Romanfigur ist ein Mensch, der dauernd auf der Suche nach sich selbst ist. Auf möglichst vielen Gebieten, bald mit mehr, bald mit weniger Finder-

glück. Ein Mensch, der zwei oder gar drei Seelen hat und diese mit dem ja nur einen Leibe umwinden muß, welches Müssen in der Regel ein automatisches Funktionieren, manchmal aber auch eine recht problematische Tätigkeit ist.

Ein solcher Mensch gleicht in seinen heiteren Zuständen - in diesen befindet er Gott sei Dank sich am öftesten - jenen lebensfrohen, meist dicken Weibern, die, wenn im Dom gefirmt wird, vor dem Tore die WindHundskoppel der Kinderballons an vielen Schnüren, aber mit einer Hand zusammenhalten. Im Dome dröhnt die Orgel, draußen streichen die leichtsinnigen Mädchen. Der österreichisch-barocke Himmel verklammert beide: den amor dei und die ars amandi. Den heiligen Thomas und den unheiligen Ovid.

Der Landfremde, für gewöhnlich aus dem protestantischen Norden stammende Rigorist, der diesen katholischen Palawatsch sieht - der ein bißchen was von der ehemaligen österreichischungarischen Monarchie und ihrer neuesten Parodie der UNO gemein hat — wird sicher fragen: und wo bleibt die Entscheidung? Denn: daß man nicht auf zwei oder vier Hochzeiten zugleich tanzen kann.

steht für den Asketen, der nicht einmal auf der eigenen tanzen würde, fest.

Freund Haybach aber kann. Ja, er hält es geradezu für seine Aufgabe, in Jena zu sein, wenn alle Welt glaubt, er sei in Weimar. Während der Komödiant die Person wechselt, wechselt er den Ort und ist so, obwohl immer woanders, immer derselbe. Und das soll ihm einer der festgefahrenen Gesellen, die ein kleines Talent mit der größten Entschiedenheit ex-ploitieren, oder eine bescheidene Hütte so demonstrativ ausfüllen, ,daß sie in Trümmer geht, einmal nachmachen.

Zum Ausgangspunkt unserer

Untersuchung des Problems Haybach können wir die folgende, so ziemHch unbestreitbare Feststellung machen, daß er Hedoniker ist. Ein Hedoniker — welches Wort vom Griechischen (hedone, deutsch: Lust) sich ableitet - ist ein Mann, der um keinen Preis einen Augenblick des Lustgewinnes versäumen will. Unsere Welt erscheint ihm als die beste aller zu denkenden Welten, weil sie ihm mehr Anlässe gibt, ihrer sich zu freuen, als an ihr zu leiden.

Eine solche Meinung von der Welt muß als Grundstimmung des Hedonikers natürlich eine optimistische verursachen, die ebenso natürlich zum integralen Fehler hat, das Vorhandensein einer pessimistischen Grundstimmung nicht in Rechnung zu ziehen. Während der Optimist, allen Geschöpfen wohlgesinnt — weil sie ja seine Lustquelle sind oder als solche erschlossen werden können - auf der Jagd nach dem Schönen sich befindet, befindet sich der Pessimist ebenfalls auf der Jagd nach dem Schönen, allerdings um mit dieser Beute -wenn die Jagd gelingt — für die schlechteste aller Welten demonstrieren zu können.

Die Trennungslinie der zwei Grundverfassungen des menschlichen Gemüts geht sozusagen mitten durch Haybach hindurch, und je nach Stellung werden die einen Leute nur die eine Hälfte, die andern nur die andere Hälfte sehen. Die aber, die Haybach nur auf verschiedenen Orten, aber immer als denselben sehen, sind zu einer anderen Erkenntnis seiner Vielseitigkeit geradezu verpflichtet.

Ich muß jetzt, um unseren. Freund treffend mit etwas zu ver-’ gleichen, die Rettungsgesellschaft oder die Feuerwehr zu Hilfe rufen. Wie diese beiden segensreichen Institutionen spätestens eine Minute nach Unfall oder Brandmeldung ihre Vehikel nach dort aussenden, wo ein Ziegel auf einen Kopf oder ein Funke aus einem Ofen gefallen ist, so ähnlich ist vorgegangen oder geht vor oder versucht zu gehen, Haybach, wenn ihm ein alarmierendes Gefühl gesagt hat oder sagt, dort oder da bin gerade ich jetzt am nötigsten.

Es ist gleichgültig, was ihm auf dem Nabelwege gemeldet worden, daß die Verlegerei im argen liege oder die Malerei oder das Schreiben, oder eine künstlerische Vereinigung wie die Secession — der barmherzige Samariter ist ja nicht Samariter im Hauptberuf, woher auch sonst hatte er die Denare, um sie dem Wirte zu geben, daß er das Opfer der Räuber pflege, bis er wiederkomme? Nein, Freund Haybach hat, was die meisten nicht haben; einen sechsten Sinn für Notlagen der Welt.

Und jetzt erst verstehen wir, warum er — nach einem geheimnisvollen Klingelzeichen in der Gemütszentrale — sofort ausfährt und so dann an Orten anzutreffen ist, wo ein Normalmensch weder einen Unfall bemerkt noch eine Feuersbrunst. Und diesem Umstand verdankt Haybach den Undank, der so tief ihn schmerzt, als eine optimistische Grundauffassung dies zuläßt.

Er ist aber nicht vergeblich, das heißt unverstanden, ungewürdigt durchs Leben gegangen. Sein Bild hat in uns sehr scharfe Züge, schärfere als die manches Menschen, der im vollen Licht der Öffentlichkeit steht und mit dem, wenn es abgedreht wird, er auch selbst verschwindet.

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