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Erlkönigs Reich

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Bs gibt Räume, in denen wir uns frei fühlen oder gefangen, heiter oder melancholisch, geborgen oder bedroht. Raum ist nämlich nicht überall gleich, sondern, im Gegenteil, von mannigfaltigster Qualität. Vermutlich ist er ebenso lebendig wie alle Wesen und Dinge, die in ihm erscheinen.

Wir kennen den gewöhnlichen, und wir kennen den magischen

Raum. In alten Kirchen und Kultstätten spürt man noch deutlich seine andere, mächtigere Energie. Eine Energie, die Menschen verändert und Ereignisse bewirkt. Tut sie es radikal, sprechen wir, die das Geheimnis der Energiefelder und unsichtbaren Ströme vergessen haben, von Wundern.

So ein magischer Raum, der uns hinter die Grenzen des vertrauten Bewußtseins entrückt, ist der Nordwald: Erlkönigs Reich! Eine Schwelle aus Zwielicht, über die wir in ein Reich jenseits des Menschen eintreten. Andere Zauberschwellen sind, zum Beispiel, Irland, Schottland, die Bretagne. Die Erde ist j a, das haben wir auch vergessen, ein lebendiges, strahlendes Wesen, dessen Leib, wie der unsere, voll von Geheimnissen ist. Was wissen wir von ihren

Zentren und Zonen, von ihren Öffnungen ins Unirdische?

Das Waldviertel mit seinen Elben mag eine solche Öffnung sein, durch die wir nicht nur aus unserer bisherigen Welt, sondern aus uns selber herausgeraten, was von allen Abenteuern das unheimlichste ist. Und das einzige, das zu bestehen sich lohnt. Denn wir erkennen uns selbst erst, wenn wir nicht mehr wir selbst sind.

Unser Geist ist ein Netz, das wir, Fischer der Wirklichkeit, ins Licht werfen. Die Maschen und Knoten sind aus lebendigen Wörtern gemacht. Das heißt, wir selbst bestimmen unsere Erfahrungen, sind verantwortlich für sie — und können sie jederzeit ändern.

Gibt es Elben, gibt es Automobile, gibt es uns selbst? Nein, nichts von alledem. Es gibt — hier verbrüdern sich alte Mystik und neue Physik — nur das Licht.

Das Netz der ratio, mit der wir diese ziemlich häßliche Wirklichkeit an Land gezogen haben, ist löchrig geworden, zerreißt. Gleichzeitig müssen wir erkennen, daß Vernunft nie objektiv war, sondern — wie alles, was wir wahrnehmend gestalten — Pro dukt unserer schöpferischen Phantasie. So geht, trotz unserer apokalyptischen Ängste, nicht die Welt unter, sondern das Bild, eines der vielen, das wir uns von ihr machten.

Nun gibt es Orte, an denen Weltbilder entstehen, neue Netze geknüpft werden. Magnetfelder, wie heute Berkeley in Kalifornien, die auf mysteriöse Weise die kühnsten und neugierigsten Geister ihrer Zeit anziehen. Ein solches, die gegenwärtige Wirklichkeit transzendierendes Feld könnte sehr bald schon das Waldviertel sein. Ein europäisches Kalifornien!

Hier entstand einst die keltische Kultur, eine dem klassischen Geist diametral entgegengesetzte „coincidentia oppositorum“. Sie ist wie ein mächtiger Baum, dessen Blüten der römische Sturm zwar verwehte, dessen Früchte aber jetzt erst zu reifen beginnen. Die neue Spiritualität; die paradoxe und entstofflichte Physik unseres Jahrhunderts; die alle Fakultäten revolutionierende Systemlehre, die — ganz wie die alten Kelten — die Welt als Bewegung begreift, als rhythmische Strukturen, als kosmischen Prozeß. Im

Schatten dieses großen alten Baumes, dessen Wurzeln noch immer lebendig sind, sollten wir keine Fabriken bauen.

Ich habe einen anderen Vorschlag. Er mag heute noch als Utopie erscheinen, aber Utopien sind der Anfang jeder Wirklichkeit. Machen wir aus dem Waldviertel eine Weltuniversität! Sie sollte autonom, autark und dezentralisiert sein. Dörfer der Wissenschaft in den Wäldern mit ein bißchen Feldbau, Viehzucht und Handwerk. Keine strenge Trennung der Fakultäten mehr! Auch keine zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Warum sollte nicht im Schweinestall diskutiert werden, sollten Vorlesungen nicht auf der Schafweide stattfinden und neue Theorien bei der gemeinsamen Mohnernte entwik- kelt werden? Erkenntnisse würden sich wie Lauffeuer verbreiten, Entdeckungen von einem auf den anderen überspringen, der ganze Nordwald wäre ein Schmelztiegel des menschlichen Geistes.

Eine alternative Universität, die Wissenschaft und bäuerliches Leben vereint: sie ist, vielleicht, das Modell der Zukunft.

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