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Digital In Arbeit

Ernst Jüngers neue Prosa

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Wer mit dem Werk Ernst Jüngers vertraut ist, weiß, daß dieser große Prosaist, dieser Meister der Sprache — vielleicht sollte man besser sagen seiner Sprache — im Verhältnis zum Umfang seines Werkes nur wenige erzählende Arbeiten geschrieben hat. Von den zehn Bänden der Gesamtausgabe vereint ein einziger die Erzählungen. Das mußte auffallen, da sich doch zeigt, daß er ein sehr aufgeschlossener Beobachter und auch ein empfindlicher Psychologe ist; beides sind Voraussetzungen für den Erzähler. Um so mehr waren wir gespannt, als wir hörten, von Ernst Jünger sei neue erzählende Prosa zu erwarten. Nun liegt das neue Buch vor; es trägt ohne eine Bezeichnung der Gattung den Titel „Die Zwille“. Es wäre falsch, die Arbeit einen Roman nennen zu wollen; man wird eher von einer in höchst persönlichem Stil gestalteten Erzählung sprechen können.

Jünger erzählt die Geschichte Ciamors, eines Jungen, der früh die Eltern verlor. Der Vater ist Großknecht in einer Mühle gewesen. Der Junge wird nun vom Dorf in die Stadt und dort in ein Internat gebracht. Clamor könnte als schüchtern und gehemmt bezeichnet werden, dazu eignet ihm eine hohe Sensibilität, die sein Schicksal zwischen den anderen Jungen und den Erwachsenen, die sein Leben mitbestimmen, entscheidet. Schließlich scheitert er an dieser Sensibilität und an der ihm nicht gemäßen Umwelt, auch an der Schule.

Die einfache Handlung gestaltet Jünger auf eine Weise, die auch die Kenner seines Werkes insofern in Erstaunen setzen muß, als der Stil bei ihm neu ist. Die Erzählweise ist schlicht und einfach, die Sprache sehr sorgfältig und gepflegt, ohne alle Konzessionen an das, was man heute „Moderne“ nennt. Meisterhaft erscheint mir die Beschreibung der Welt, in der dieser Junge lebt: die norddeutsche Landschaft mit ihren Menschen, die Atmosphäre der Kleinstadt mit ihren oft merkwürdigen Sitten und Gebräuchen (kurz nach der Jahrhundertwende) und natürlich die verschiedenen Menschen, die diese Welt bevölkern, die Kameraden, vor allem der Gegentyp Theo, die Lehrer, der Superintendent, der die Vormundschaft übernommen hat und ihn zu seinem Bruder bringt, der das Internat leitet.

In der Zeichnung dieser Gestalten entdecken wir den genauen Beobachter und Psychologen, der uns aus früheren Erzählungen und aus den Tagebüchern vertraut ist. Der Stil wird auch dadurch charakterisiert,daß Jünger immer wieder zurückblendet, daß er den Fortgang der Erzählung durch ausführliche Betrachtungen, Reflexionen und allgemein gültige Einsichten unterbricht. Das wirkt im allgemeinen nicht störend, charakterisiert aber die Arbeit. Man könnte verführt sein, zu sagen, es handle sich um eine Art Altersstil, denn „Die Zwüie“ ist immerhin das Werk eines Achtundsiebzigjähri-gen, der aber auf eine erstaunliche Art jung geblieben ist.

Daß kulturgeschichtliche Momente eine besondere Rolle spielen, versteht sich bei Jünger fast von selbst. Mit besonderer Freude huldigt er an vielen Stellen einer realistischgegenständlichen Kleinmalerei, was manche Leser als übertrieben empfinden mögen. Auch die Weise, wie gewisse Szenen bis in letzte Details beschrieben werden, sei als besondere Charakteristik des Jüngerschen Stiles erwähnt.

Nach dem Wert des Buches befragt, könnte man antworten, er liege vor allem in der Zeichnung der Jugend vor dem Ersten Weltkrieg, wobei nichts verschwiegen, nichts ausgelassen und nichts beschönigt wird. Das Ethos, das die Arbeit prägt, wird von Jüngers Haltung charakterisiert. Ein versöhnendes Licht werfen die Schlußsätze über das Schicksal Ciamors, wenn Jünger sagt: „Das Schöne gehört uns allen; an ihm gibt es kein Eigentum. Es ist unteilbar; wir finden uns in ihm. Wir finden und vergessen uns im anderen; wir sind nicht mehr allein.“

Die Erzählung bedeutet eine unerwartete Bereicherung von Jüngers Gesamtwerk; im Schrifttum der Gegenwart kommt ihr ein bedeutender Rang zu.

DIE ZWILLE. Von Ernst Jünger. Ernst-Klett-V'erlag. Stuttgart 1973.

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