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Franziskus und Matthias oder: Die Fülle des Lebens

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Wir werden in diesem Sommer die geistigen Rosengärten Europas durchstreifen, und zwar nicht irgendwo in der Ferne, sondern gleichsam vor der Haustür. In der Minoritenkirche in Krems und in der Schallaburg werden bereits die Schätze gehortet: diese Schätze nicht der geizigen Gier, sondern der Abenteuerlust der Phantasie. Und wenn ich daran denke, was uns im Mai hinter altem Gemäuer erwartet, fühle ich jene sanfte Wonne der Sehn-' sucht, die wir als Kinder, als sehr junge Leute empfunden haben, wenn wir an ferne italienische Städte dachten oder an die wohlgeordnete Pracht der Renaissance.

In Krems führt uns die große Ausstellung in die Welt des Franz von Assisi. Wir überspringen die letzten achthundert Jahre und befinden uns in der ersten Aufbruchzeit modernen Lebens, im italienischen 12. Jahrhundert.

Es verändert sich die harte, gielle, lustige, grausame mittelalterliche Welt vor unseren Augen, und langsam, sehr langsam treten neue Formen des Lebens hervor. Es ist die vorerst noch bescheidene Blütezeit der in sich geschlossenen Städte, doch hat das Handwerk bereits neue Organisationsformen erreicht, die Werkstatt weitet sich allmählich zur Manufaktur, die Handelshäuser verschieben in großer Menge die bei Edelleuten und bei Bürgern begehrten Waren, und Bankiers sorgen, in gefährlichen Zeiten vorübergehend noch gepanzert, für den für die Transaktionen notwendigen Kredit

Gegen diese Welt des wachsenden Wohlstands und des offen zutagetretenden Egoismus rebelliert ein junger Mensch in Assisi; er will, wie jeder Rebell, den Ideen einer verlorengegangenen Reinheit zur Wirksamkeit verhelfen. Er erinnert an die Ursprünge, an die Botschaft jenes Jesus von Na-zareth, dessen Leben in einem Stall beginnt und auf einem Richtplatz endet.

Franz von Assisi verkörpert den antizivilisatorischen Aspekt einer sich in sich selbst versenkenden Kultur, er kehrt zur Natur zurück und zur Metaphysik des einfachen Lebens, er verläßt den Zwang vermeintlicher Notwendigkeiten und findet in der Liebe zum Naturzustand der Schöpfung eine für die Zeit neue Art von Liebe zu Gott.

Der Held der anderen Ausstellung, König Matthias Corvinus von Ungarn, steht am anderen Ende derselben Epoche. Vierhundert Jahre nach dem heiligen Franziskus verkörpert er den Sieg der Renaissance, und zwar nicht nur in Italien, wo die neue Richtung längst triumphiert hat, sondern in einem geographischen Grenzbereich der mediterranen Kultur. Auf der Schallaburg entfaltet sich die prächtige, allerdings niemals maßlose Spätzeit dieser mächtigen Harmonie.

Nach den großen Taten der Kunst des Quattrocento ist eine feine Balance entstanden und ein selbstbewußtes Raffinement. Die Humanisten versuchen, die Erbschaft der Antike mit der Botschaft des Christentums zu vereinen, und der Traum von Freiheit findet, vorerst durch die ordnende Kraft des gebildeten Herrschers verkörpert, eine bereits für jedermann zugängliche Gestalt.

Aus Krakau und aus New York,aus Budapest und aus London, aus den schönen Städten Italiens und aus den reich ausgestatteten deutschen Museen, aus den Klöstern des Balkans, aus ganz Europa werden die zu den großen Themen passenden Bilder gesammelt, die Kunstgegenstände, die prachtvollen Bücher und auch die phantasievoll gestalteten Gegenstände des Alltags. Die beiden niederösterreichischen Landesausstellungen werden nicht nur Kenntnisse vermitteln, sondern auch einen Begriff mit Inhalt füllen. Er lautet: Fülle des Lebens.

Schon der Gedanke allein, das alles sehen zu dürfen, gibt mir ein Gefühl, das an Verliebtheit erinnert. Und in der Tat: Sind wir denn nicht von Zeit zu Zeit in die durchgeistigte Fülle unseres Kontinents ein wenig verliebt?! Zuweilen empfinden wir den seltsamen Zauber dieses verrückten, in der schöpferischen Arbeit wie im Morden unermüdlichen Erdteils, und die gemeinsame Erbschaft wird uns als Lust und als Bürde bewußt.

In der Minoritenkirche zu Krems und auf der Schallaburg könnten wir im Sommer Gelegenheit finden, über die schöne Tragik unserer weiteren Heimat ein wenig nachzudenken.

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