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Garten, heller Tag

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Das Kind sitzt im Garten in ei- nem Lehnstuhl aus geflochtenem Rohr, breit ausladend die Armstüt- zen, drei Kinder hätten Platz in dem Sommersonnengartensitz, so pflegt der Vater das massige Möbel, aus Weidenruten und weiß lackiert, zu bezeichnen, und das Kind ist wie verloren darin, sitzt still, müde vom Spiel in den Wiesen, sitzt und schaut nirgendwo hin, über die Büsche vor dem Gartenzaun und in den Him- mel hinein? Wer könnte es sagen, und die Hände hält es ineinander gelegt, die rechte eine Schale, in der die linke Hand ruht wie die Blumen in der Vase ruhen am Tisch, der daneben steht, oder das Brot im Korb auf dem selben Tisch.

Als Minuten später die Mutter aus dem Haus kommt und das stille Kind im Gartenstuhl sieht, hält sie an. Bleibt unbeweglich. Steht bloß und schaut zu dem Kind. Steht und schaut und sieht ihre Tochter als Teil der Natur, der belebten Natur, aber im Augenblick doch nicht anders als ein Vogel im Nest, als den Feldhasen in die Ackerfurche gedrückt, als das Reh im Wald auf seinem Lager im trockenen Laub, sieht es jedenfalls zum ersten Mal im Zusammenhang mit allem an- deren Geschaffenen, und plötzlich ist nicht mehr sie die Mutter son- dern die ganze Welt ist dem Kind Vater und Mutter, Bruder, Schwe- ster, Ahne und doch gleichzeitig Nachkomme, weil es im Moment weder für die Mutter, noch für das Kind Vergangenes gibt oder Zu- kunft, sondern bloß immerwähren- de Gegenwart, und das Schauen des Kosmos, der gleichzeitig Wiege und Grab, Leben und Tod in unaus- weichlicher, immerwährender Fol- ge.

Ein Schritt von der Türe weg in den Garten. Ein zweiter Schritt. Das Kind blickt auf. Die Mutter hält an. Aber die Tochter schaut nicht zur Mutter, sondern nur zu einem kleinen Vogel, der eben von einem Ast zum nächsten fliegt mit rascher, hastiger Bewegung. Der Sperling hat wieder Schutz gefun- den, ist im neuen, hellen Laub der Buche verborgen, und das Kind sitzt wieder still, die Augen wie zuvor über die Büsche vor dem Garten- zaun zum Himmel gerichtet oder nirgendwo hin, wer könnte es je wissen, überlegt die Mutter, bleibt still bei der Türe vor den Stufen, die zum Garten hinunter führen. Sie steht, schaut, und weiß mit einem Mal, daß mit dem Eintritt des Kin- des in diese Welt, das sie und ihr Mann dem kleinen Wesen dort unten ermöglicht hatten, dieses mit der Geburt wohl aus einem Zusammen- hang getrennt wurde, eigenem Drängen entsprechend oder einem waltenden Schicksal, wer weiß es, aber aus einem Zusammenhang gelöst werden ist doch Sterben und nicht Geburt? Ist doch Tod und nicht Leben?

Danach wandert ihr Blick vom Kind weg und über den Garten. Ihr Stolz. Und sie liebt diesen Garten, den sie pflegt, betreut, dem sie Mutter und Vater ist, und der ihr heute ihre Mühe in besonderem Maß dankt, leuchtet er doch in der schön- sten Frische des Frühlings in neu- em Grün, die Blumen in den Wiesen weiß und gelb strahlend, während die Blüten des Flieders mit ihrem dunklen Violett schon die Mühsal kommender Fruchtbarkeit jenseits des ersten und leichten Blühens ahnen lassen. Dazu der Springbrun- nen in der Mitte des großen Wiesen- stückes, der dünne Wasserstrahl kaum meterhoch aufsteigend, und doch genügt das, zu zeigen, daß jede Sekunde des Daseins in dieser Welt das Aufwärtsstreben sehr bald von der Erdenschwere gebrochen zurückfallen muß zum Ursprung. Aber trotz allem ist genau jetzt die schönste Zeit, die Tage um Ostern, das Blühen und Sprießen, die Be- wegung hinauf und dem Licht zu, und alles scheint mühelos und ohne Ende weiter und aufwärts zu stre- ben.

Dann wendet das Kind den Blick und schaut nicht mehr über die Büsche vor dem Gartenzaun in den Himmel hinein, sondern jetzt zur Mutter bei der Türe vor den Stiegen zum Garten. Das Kind lächelt, bleibt still im Gartenstuhl, die Hände noch immer ineinander ruhend, die linke Hand in der rech- ten, sitzt still und lächelt, während die Mutter in diesem Augenblick mehr weiß als je zuvor während ihres ganzen Lebens. Plötzlich gibt es wieder Vergangenheit und Zu- kunft, nicht mehr bloß Gegenwart wie zuvor, und sie weiß, daß das Herauslösen aus einem Zusammen- hang der Tod ist, aber doch gleich- zeitig auch Geburt, die Vereinigung zu immerwährendem neuen Leben jedenfalls, das nicht mehr in einem Teil des Ganzen läuft und in der Begrenzung, sondern in der Ge- samtheit der Welten, und darüber hinaus sogar im ungeschaffenen und ewigen Urgrund des Seins.

Die Mutter beginnt zu gehen.- Steigt die Stufen hinunter bis zum Anfang des großen Wiesenstückes. Dann hält sie wieder an. Das Kind im großen Korbstuhl neben dem Tisch mit den Blumen in der Vase, mit dem Brot im Korb und nahe dem Springbrunnen, schaut zu ihr. Es steht auf, bleibt aber neben dem Sessel. Schaut bloß zur Mutter. Die Augen ernst. Fragend. Sogar vor- wurfsvoll. Wollte es nicht gestört sein? Aber dann lächelt es. Beginnt zu gehen. Geht langsam zur Mutter, die ihre Arme ausbreitet. Aber das Kind geht langsam. Beginnt nicht zu laufen, wie es sonst getan hätte. Es geht bewußt. Weiß, daß es eige- ner Entscheidung folgt und nicht irgendeinem Trieb. Es geht bewußt und weiß, daß sich dieses Gehen jetzt von jedem anderen zuvor un- terscheidet. Komm, sagt die Mut- ter, komm nur.

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