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Der Stiefvater

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Mein Vater hatte keine schöne Kindheit. Er hat uns nur selten davon erzählt; er liebte es nicht, diese traurigen Erinnerungen aufzuwecken.

Seinen Vater hat er nicht mehr gekannt, weil jener zu früh starb. Er blieb als einziges Kind mit seiner Mutter auf dem Bauerngut. Die Mutter heiratete einen Zimmermann und so bekam das Kind einen Stiefvater. Dieser stammte aus einem armen Hause und hatte geheiratet, um zu Besitz zu kommen. Das Kind, welches auf das Gut angeschrieben war, bedeutete ihm bloß ein unangenehmes Hindernis. Er war ein grober Mensch und sehr engstirnig. Der Gedanke, daß der kleine Knabe der eigentliche Herr sei und er nur ein Zugeheirateter, war ihm unerträglich. Er kam oft tagelang nicht nach Haus, wenn er auswärts arbeitete, und wenn er dann heimkam, war er doppelt böse auf den Knaben, der Johann hieß, aber Hannes gerufen wurde. Wegen nichtiger Anlässe gab es furchtbare Schläge; wenn die Mutter fort- ging, lief ihr Hannes schreiend nach, weil er immer härter geschlagen wurde, wenn er mit dem Stiefvater allein war, als in Gegenwart der Mutter. Diese wurde krank, als Hannes vier Jahre alt war, und starb nach einigen Monaten. Hannes stand neben seinem Stiefvater am Grabe; dann faßte ihn jener hart bei der Hand und führte ihn fort. Nun kamen schlechte Zeiten für Hannes, überall hätte er die Mutter gebraucht und überall stand er dem Stiefvater im Wege. Was ist ein vierjähriges Kind ohne Mutter? Es war keine Frau im Haus, der Stiefvater machte alles selber, auch das Essen. Von dieser Zeit stammen die ersten Erinnerungen meines Vaters. Ich habe den Stiefvater nicht mehr gekannt, er starb zu früh, ich kann mir nur aus den Erzählungen ein Bild von ihm machen. Was ihm einfiel zu der Untat, die hierauf geschah, wer kann es sagen? Er dachte nicht weiter, er wollte bloß das lästige Kind weghaben.

An einem Vormittag im Sommer vor der Ernte nahm er den bald fünfjährigen Hannes mit aufs Feld. Das Dorf lag in einer unendlichen Ebene, und zum nächsten Dorf war es weit. Sie gingen vielleicht eine Stunde lang, dann waren sie an einem Rain, das ist ein schmaler Wiesenstreifen, der zwei Felder voneinander trennt. Auf der linken Seite war ein Kornfeld, auf der rechten ein Wickenfeld. An diese Einzelheiten erinnerte sich mein Vater genau. Er hatte sich an diesem Tage wohlgefühlt, denn der Stiefvater war nicht grob, sondern beinahe freundlich zu ihm gewesen. Und ein verstoßenes Kind ist dafür doppelt dankbar. Hannes hatte sich gefreut über den weiten Gang durch die Felder auf die Zitterwall, wie diese Gründe hießen. Und nun, zwischen Korn- und Wickenfeld, sagt der Stiefvater:

„Hier pflück dir Blumen; ich komme bald.”

Das Kind war allein. Hannes tat, wie der Vater befohlen. Er ging am Rande des Getreidefeldes fort und suchte Blumen. Er fand die blauen Kornblumen, den roten Mohn und ab und zu eine Kornrade, die rot und blau zugleich ist. Er ging nur einige Schritte in das Korn hinein, dann lief er am Rande weiter. Es überragte ihn wie ein Wald. Nun hatte er schon einen schönen Strauß in seinen Händchen; wenn derStiefvater jetzt gekommen wäre, hätte Hannes ihm mit leuchtenden Augen die Blumen gegeben, aber jener kam nicht, um aus den Händen des Kindes den Sommerstrauß zu empfangen. Hannes legte die Blumen ins Gras und suchte weiter. Viele, sehr viele wollte er noch pflücken, dann würde der Stiefvater vielleicht zufrieden und heute den ganzen Tag mit ihm gut sein. Er lief nun weiter ins Korn und brachte immer mehr Blumen. Er legte die blauen zusammen und die roten extra auf ein Häufchen und freute sich, daß er so viele hatte. Aber der Vater kam nicht. Hannes rückte aus der Sonne in den Schatten des sich neigenden Kornes. Blau spannte sich der SommerhLmmel darüber und die vollen Ähren nickten ihm zu. Grillen zirpten, Heuschrecken sprangen auf, hie und da schlug eine Wachtel im Korn. Hannes war umgesunken und eingeschlafen. Wie er im Schlaf die Hand bewegte, warf er die Kornblumen durcheinander, der Mohn aber glühte in seiner ganzen Pracht, wie das Kind die Blüten zusammengelegt hatte. Jedes Wesen, besonders ein Kind, hängt am andern, ist in der Sorge und Liebe von Mutter und Vater festgehalten, hier aber lag ein Kind, um das sich niemand sorgte, das von niemand geliebt wurde. Im Gegenteil, ein einziger Mensch war nur äußerlich mit ihm verbunden, und der wünschte ihm den Tod. Hannes erwachte lange nah Mittag. Die Umgebung war ihm fremd, er rieb sih seine kleinen Augen und sah sih um. Da fielen seine Blicke auf die Blumen, und nun erinnerte er sih langsam an alles. Schön legte er die verwirrten Kornblumen zusammen, dann fühlte er Hunger. Und er stand auf, den Vater zu suhen. Aber die Blumen nahm er mit; der Vater hatte ihm ja geheißen, sie zu pflücken. Er war ratlos, wie er sie nehmen sollte, mit seinen Händen konnte er sie niht umschließen. Dann nahm er die Kornblumen in die rechte Hand, die Mohnblumen in die linke, und weil er mit den Kornraden nichts anzufangen wußte und sie ihm auh niht so schön ershienen, ließ er sie liegen. Er lief den Rain entlang bis ans Ende, wo das Wickenfeld um den Getreideacker einen Bogen schlug. Er blieb stehen und schrie, aber niemand antwortete ihm; wer hätte ihn hören sollen in der Unermeßlihkeit der Felder? Das Kind lief wieder zurück bis zur Stelle, wo die Kornraden lagen. Hier hatte es der Vater alleingelassen. Der Hunger und die Angst trieben ihm die Tränen aus den Augen. Es lief nochmals ans Ende des Raines und stieg dann in das Wickenfeld hinein. Die Wicken sind eine Zwishenfruht, die niht überall angebaut wird. Am ehesten könnte man sie mit einem Erbsenfeld vergleichen. Es ist ein Schlinggewächs, das in wüstem Durheinander wächst. Für einen Großen ist das Fortkommen darin mühsam und erst für ein fünfjähriges Kind. Die Füßhen waren bald zerkratzt und zerstoben, die Angst vor dem Alleinsein trieb es an, es kam nur langsam weiter. Von den Blumen hatte es die meisten bereits verloren, nur einen Rest hielt es noch krampfhaft, ohne daran zu denken, in seinen heißen Händhen. Keine Seele war weitum, niemand hörte sein Rufen und Weinen. Endlih kam es aus dem Wickenfeld heraus und gelangte in ein Getreidefeld. Die Ähren überragten es dreimal. Es sah niht auf die Blumen, sondern arbeitete sih mühsam durh. Und die Angst lief mit ihm und hetzte es ruhlos weiter. Es fiel, blieb eine Weile liegen, der Schweiß klebte Hemd und Höshen an den Leib, der Mund war ausgetrocknet, der Atem ging keuchend, das Herz schlug übermächtig. Und dann eilte das Kind wieder fort. Der Nachmittag war vergangen, der lange Abend war shon verdämmert. Längst waren alle Leute im Dorfe, zumal die Kinder hatten ihre Abendsuppe gegessen und sorgsame Mütter legten sie ins Bettchen. Nur eines von den Dorfkindern fehlte, der kleine Hannes. Sein Vater war ruhiger geworden, denn den ganzen Tag hatte er gefürchtet, daß das Kind vielleiht selber heimfinden würde. Er dachte vielleiht an Hauskatzen, die, stunden-, nein tageweit in der Fremde ausgesetzt, heimfinden.

Ih fragte meinen Vater, was das Schlimmste war. Er sagte: „Der Hunger.”

Ih fragte ihn: „Du hättest doch die Körner aus den Ähren essen können?”

Er antwortete: „Darauf kommt ein Großer, aber kein Kind.”

Der Abendwind spielte mit den Wolken und dem wogenden Meer der Ähren, Hannes war hingesunken und starrte in den Abgrund des Himmels. Was er sih gedaht habe? Gar nihts. Nur Hunger, Angst und Durst habe er gefühlt. Die Naht ist fürhterlih für ein Kind, auh wenn es sih geborgen weiß bei der Mutter. Und hier sitzt ein Kind, ausgesetzt in der endlosen Getreidewüste. Es kann noch keinen klaren Gedanken fassen, um so stärker sind seine Gefühle. Wir Großen haben die Ängste unserer Kindheit vergessen, aber sie waren riesengroß. Die Daseinsangst erlebt der Mensh am stärksten als Kind und vielleiht noch in den letzten Augenblicken vor seinem Tode. Dann kam der Allerbarmer Schlaf, und Hannes shlief ein. Weihe Träume ihn geplagt haben? Oder haben sie ihn getröstet, hat er von seinem toten Vater und seiner Mutter geträumt, von einer Schüssel Milh und daß ihn eine freundliche Hand herausgeführt habe? Der Vater weiß von diesen Träumen nihts mehr.

Zeitlich am Morgen erwachte er, und der ganze Schrecken seiner Einsamkeit überfiel ihn. Und wieder begann er zu rufen, zu schreien, zu weinen und zu laufen. Wieviel Tränen die Wangen herabgelaufen sein mögen? Wie oft er gestolpert, gefallen sein mag? Und dahinter und über allem die Angst. Ein großer Denker sagte einmal, alles begreife er, alle Leiden des Menschen, denn schließlich sei keiner schuldlos, aber die Leiden der Kinder begreife er niht.

Ein Tag und eine Naht waren so vergangen, vierundzwanzig Stunden, weih eine endlose Zeit!

Am Vormittag war der Vater wieder auf so ein unglückseliges Wickenfeld geraten und stundenlang darin herumgestolpert, dann kam er auf einen Feldweg, weihen er zum Glück niht mehr verließ. Gegen Mittag kam der Nostadt-Mihl, ein Sohn des Vormunds des Hannes, vom Feld heimgeritten, da lief ihm das Kind entgegen. Entsetzt stieg er vom Pferd und fragte das Kind aus. Er brachte niht viel heraus. Der Vater habe ihn herausgeführt und Blumen pflücken geheißen. Da schaute Hannes in seine Händchen, aber längst war keine Blume mehr drin. Der Mihi hatte ein Stück Brot im Sack, das gab er dem zitternd danah greifenden Kind, dann heb er es vor sih aufs Pferd und sie ritten von der Zitterwall heim.

Jetzt lag auh das höchste Kornfeld unter ihnen, und nah einiger Zeit tauhten die Häuser des Dorfes auf. Michl brachte das Kind zu seinem Vater, dem alten Nostadt, dem Vormund. Die Frauen entsetzten sih, sie wuschen das Kind und rissen ihm den Wasserkrug, aus dem es endlos trank, aus den Händhen. Der Nostadt ging zum Bürgermeister und bei4de zum Stiefvater. Düster und stumpf sah dieser sie kommen.

„Hambach, was ist mit dem Hannes da?”

„Er lief mir auf dem Acker davon.”

„Du hast ihn Blumenpflücken geschickt, sieh dih vor! Du könntest dich am Ende selber ins Unglück bringen. Wir wissen Bescheid.”

Er hat den Hannes niht mehr in die Zitterwall geschickt.

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