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Geist jenseits der Phrasen

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„Alle Tabus müssen fallen!“ — Für den religiösen Menschen, der daran glaubt, mit Gott im Bunde, von Ihm abhängig und angefordert zu sein, als Mitwirkender gebraucht und als eigenes Kind geliebt zu werden, stellt dieses Schlagwort keine Versuchung dar. Wer an Gott als die Wahrheit glaubt, muß die Lüge verschmähen und versuchen, sie zu entlarven, wer Gott als Güte und barmherzige Vergebung erfahren hat, muß dem Haß und all seinen Methoden abschwören. Wer die Lehre der Kirche bejaht, die, Pauli Erkenntnis nachvollziehend, den Menschenbund der Ehe als Gleichnis des Neuen Bundes begreift, für den muß die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe „tabu“ sein. Wem Gott Herr über Leben und Tod ist, der darf nicht töten, und lebensunwertes Leben gibt es für ihn nicht.

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„Alle Tabus müssen fallen!“ — Für den religiösen Menschen, der daran glaubt, mit Gott im Bunde, von Ihm abhängig und angefordert zu sein, als Mitwirkender gebraucht und als eigenes Kind geliebt zu werden, stellt dieses Schlagwort keine Versuchung dar. Wer an Gott als die Wahrheit glaubt, muß die Lüge verschmähen und versuchen, sie zu entlarven, wer Gott als Güte und barmherzige Vergebung erfahren hat, muß dem Haß und all seinen Methoden abschwören. Wer die Lehre der Kirche bejaht, die, Pauli Erkenntnis nachvollziehend, den Menschenbund der Ehe als Gleichnis des Neuen Bundes begreift, für den muß die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe „tabu“ sein. Wem Gott Herr über Leben und Tod ist, der darf nicht töten, und lebensunwertes Leben gibt es für ihn nicht.

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Gut, das sei unser Privatvergnügen, uns an solche Vorschriften zu halten, wird uns gesagt. Die Mehrheit teile diese Überzeugungen nicht, habe sie tatsächlich nie geteilt, sondern nur unter dem Druck drohender Repressalien Einverständnis geheuchelt. Da sogar die Kirche nun endlich die Freiheit entdeckt und allen Menschen zugestanden habe, nach ihrem Gewissen zu leben, hätten wir keinerlei Legitimation mehr, unsere Vorstellungen den anderen aufzuzwingen. — Kelsen, ein wohl imverdächtiger Zeuge, sieht das ‘allerdings anders: „Wer sich nur auf irdische Wahrheit stützt, wer nur menschliche Erkenntnis die sozialen Ziele richten läßt, der kann den zu ihrer

Verwirklichung unvermeidlichen Zwang kaum anders rechtfertigen als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll.“ Er hält es freilich für unmöglich, sich heutzutage auf „göttliche Eingebung“ — wozu unsere Offenbarungsschriften doch wohl gehören — zu berufen …

Mit Gewalt also nicht! Aber nur deshalb nicht, weil unsere „Vorstellung gen“, die in Siegen und Niederlagen der Geschichte gereifte Einsicht, uns das heute verbieten.

Was wir aber zweifellos dürfen und müssen, ist, solche Schlagwörter näher zu untersuchen. Vielleicht wenden wir damit das schlimmste Un heil ab, das Immer noch von denen angerichtet wird, die nicht wissen, was sie tun.

Keine Tabus? Ist das überhaupt vorstellbar, von Verwirklichung zu schweigen?

Gottesfurcht — was ist das? Eure eigenen „Gottesgelehrten“ verkünden mit Nachdruck: Gott ist tot. Reinheit — ist längst kein Wert mehr. Ein Vorurteil, das lächerlich macht.

Gehorsam — ist äußerst fragwürdig. Ordnung — ist immer suspekt, geht nur aus Zwang hervor.

Autorität — scheint das Urübel zu sein, das alle anderen hervorgebracht hat! Weg damit!

Was bleibt?

Freiheit. Chancengleichheit. Entfaltung der Persönlichkeit. Verantwortlichkeit. Schutz vor Ausbeutung. Solidarität.

Das kommt mir alles bekannt vor. Plötzlich seh ich’s in einem Bilde: Schnittblumen sind’s, wohlgeordnet in einem Strauß in der Vase am Tisch, ein erfreulicher Anblick! Draußen war soviel Gras dazwischen, Unkraut, Wildwuchs; zudem ging ein scharfer Wind, und zuweilen gab es Regen. Hier, im geschützten Raum der Ideologie, können wir uns endlich an den Lieblingsblüten erfreuen! Erfreuen wir uns, aber schnell! Denn die Herrlichkeit währt nicht lange: die Wurzeln sind draußen geblieben,

ln der Erde; die Blumen verwelken rasch.

Die Wurzeln, das waren die alten Tabus:

Gottesfurcht verbietet den Übergriff auf Persönlichkeit und Besitz des Nächsten.

Gehorsam… Ein altes und dennoch wahres Sprichwort sagt: Wer befehlen will, muß zuerst gehorchen lernen. Aber, pardon, wir sind heute antiautoritär, wir wollen niemandem befehlen, nicht einmal den Unmündigen. Und wenn sie zu Schaden kommen? Dann lernen sie daraus. Und wenn sie zugrunde gehen? So arg wird’s schon nicht werden! Reinheit… Ohne Selbstbeschränkung keine Selbstentfaltung.

Ordnung… Gewiß kein Wert an sich; aber die Voraussetzung jeder Entwicklung. Diabolus: „der Durcheinanderwerfer ! “

Schließlich Autorität! Wer setzt die Maßnahmen durch, und wie sollen sie durchgesetzt werden, die vor Ausbeutung schützen, die Entfremdung des Menschen aufheben, wenn grundsätzlich jede Autorität, auch die des gewählten Gesetzgebers, in Frage gestellt wird? Ich höre, die Autorität des Fachmannes werde geachtet. Wofür ist der Politiker Fachmann oder gar der Journalist? (Meistens nicht einmal für sein engeres Ressort.)

Die Vernunft setzt sie durch, setzt sich durch. Aha, die alte Göttin der Revolution! Von selbst geschieht das? Nein, durch gegenseitige Kontrolle: einseitige Interessen dürfen nicht zum Zuge kommen. Bedauerlicherweise haben aber die Kontrollore meist selbst „einseitige Interessen“? — Die aber einander widersprechen! Also Kampf aller gegen alle? Das ist auch eine Methode.

Darf man zweifeln, daß sie die bessere ist? Oder vergreift man sich da schon an einem — Tabu? Schnittblumen. Sie welken unaufhaltsam im geschützten, abgeschlossenen Raum der Ideologie. Aber draußen, die Wurzeln im Boden der Wirklichkeit, treiben neu. Nutzpflanzen, Blumen und Unkraut.

Wer Unkraut jäten möchte, muß wissen, wie die Pflanzen im Werden aussehen, und er kann nur einzelne ausreißen. Man kann Unkraut nicht pauschal entfernen, außer durch Gift, das alles Leben tötet. Hierin haben wir bereits Erfahrungen gesammelt: die Schäden, die wir der Umwelt zugefügt haben, beginnen wir zu erkennen. Die Schäden in den Herzen der Menschen, der Kinder, sind schlimmer. Wieviel hochkonzentriertes Gift wird versprüht, um Ehrfurcht, Demut, Schamhaftigkeit, „Aberglauben" auszurotten! Ob da noch die erwünschten Pflänzchen des Gemeinsinns, der Opferfreude, der Ehrlichkeit, der Unbestechlichkeit gedeihen können?

Wir bauen Spitäler und können sie nicht eröffnen, weil es keine Krankenschwestern dafür gibt. Es mangelt an Erziehern, um gefährdete Jugendliche zu resozialisieren, an Fürsorgerinnen, Irrenwärtem; wir könnten 70 Prozent aller Krankheiten heilen; aber die jungen Ärzte gehen nicht aufs Land, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Wir haben stattliche Volkshochschulen, aber das Volk will hauptsächlich in „Hobbies“ unterwiesen werden, um seine „Freizeit zu gestalten“. Wir propagieren „Bildungsexplosion“ und haben schon jetzt zu wenig Lehrer. Hoffen wir, daß die Wurzeln draußen neue Triebe hervorbringen. Damit es frische Blumen gibt und Weizen gegen den Hunger. — Und daß zwischen dem Unkraut tatsächlich der Weizen reift!

Wenn man nicht vergessen hat, Weizen zu säen.

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