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Gutes wird pervertiert

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In der vergangenen Woche lieferte das Sektenproblem Schlagzeilen und war Thema einer „Club-2”-Diskussion. Worin liegt eigentlich die Faszination dieser Gruppen, die schon seit vielen Jahren besonders die Jugend ansprechen?

Da ist zunächst sicher ihr Angebot, an einem fortdauerndem, verbindlichen Gemeinschaftsleben teilnehmen zu können. Aus einer häufig gefühlsarmen, durchorganisierten Welt kommend, erfährt der junge Mensch ein offenes Angenommensein. Uber Zuwendung wird nicht nur geredet, sie wird erfahren!

Ebenso wichtig ist das Angebot scheinbar umfassender Sinnerfüllung. Im Gegensatz zum heute weitverbreiteten Weltanschauungspluralismus trifft der junge Mensch auf Personen, die Position beziehen — und die sich scheinbar an ihre eigenen Spielregeln halten!

Eine ehemalige Anhängerin der Mun-Sekte brachte dies im Club 2 zum Ausdruck: Die Vortragenden im Einführungsseminar sprachen nicht nur von Zuwendung, sondern bemühten sich auch um die Kursteilnehmer, waren stets zu Gesprächen bereit, schliefen kaum. Auch hier wiederum: Nicht nur der Verstand, die Gesamterfahrung der Person wird angesprochen.

Auch andere Erfahrungsbereiche werden ernst genommen: Es wird gebetet, nicht nur über die Wichtigkeit des Gebets gesprochen. Es wird gefastet und man erlegt sich Bußen auf, um die Ernsthaftigkeit des Strebens zu dokumentieren. Damit wird die gesamte Person, Geist, Seele und Körper in die Erfahrung einer Erneuerung einbezogen.

Schließlich appellieren die Sekten noch an die Hingabefähigkeit. Auch hier wieder: Welcher Kontrast zur weitverbreiteten Ängstlichkeit, nur ja nicht zu überfordern, gerade in religiösen Dingen!

Mir schaudert bei dem Gedanken, wie nahe die Sekten an der Wahrheit sind. Wir haben heuer den 1500. Todestag des heiligen Severin gefeiert. Seine Parole: „Faste, bete, sei barmherzig”, ähnelt sehr dem Appell, den die Sekten an die Menschen unserer Zeit richten.

Und dennoch liegen sie grundfalsch! Man erkennt es an ihren „Früchten”: Zerbrochene Familien, verzweifelte Eltern, vor allem aber eine echte Rückent-wicklung der Persönlichkeit bei den Mitgliedern: Die ehemalige Mun-Anhängerin hatte ihre handwerkliche Begabung verloren, mußte wieder lernen, wie man Einkäufe macht, sich unter fremden Leuten bewegt! Zerstört wird meistens das Selbstwertgefühl.

Diese Involution des Menschen bringt die Perversion höchster Anliegen zum Ausdruck.

Tragisch ist, daß damit das Fasten, das Beten, das Großherzigsein in den Augen vieler diskreditiert wird. Tragisch ist, daß damit die Bereitschaft, sich ganz auf Gott einzulassen, in ein schiefes Licht gerät. Tragisch ist, daß die legitime Suche nach intensiveren Formen des Gemeinschaftslebens, als sie unsere anonyme Gesellschaft bietet, damit suspekt werden.

Denn mehr Offenheit für den

Mitmenschen, mehr Bereitschaft zum Verzicht und Einübung darin sowie die immer umfassendere Ausrichtung auf Gott bleiben die richtigen Lösungsansätze für die Nöte unserer Welt.

Die zahlreichen christlichen Erneuerungsbewegungen sind ein lebendiges Zeugnis dafür, daß der Aufbruch nach innen auch in die rechten Bahnen gelenkt werden kann. Dort werden Gemeinschaftserfahrungen in . Kursen nicht zur Fessel, sondern zum Anfang erfüllterer Beziehungen zum Mitmenschen.

Dort führt freies Gebet und Gebet in Gemeinschaft nicht zur Gehirnwäsche, sondern zu einer befreienden Beziehung zu Gott, aus der die Kraft zur Umkehr wächst. Dort wird die erwachende Großmut nicht für florierende Unternehmen der Sektenführer mißbraucht, sondern in den Dienst der Mitmenschen gestellt.

Die Sekten sind ein Zeichen unserer Zeit: Sie lassen uns den Umfang einer unbefriedigten Grundsehnsucht des Menschen nach Sinnerfüllung erkennen. Sie mahnen uns, daß die edelsten Triebe des Menschen durch Fehlleitung von egoistischen, machtbesessenen Führern pervertiert werden können. Sie mahnen die kirchlichen Erneuerer, wohin Übertreibungen führen können.

Sie sind ein Stachel im Fleisch der Kirche: Wären wir Christen so ernsthaft um die Botschaft Jesu bemüht wie die Anhänger der Sekten um die Verbreitung ihrer Lehre, würde sich das Sektenproblem aufhören.

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