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„Hinauswurfparagraph“

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Um Frau Dr. Mila Kars, die Wiens praktische Ärzte als „demoralisiert“ bezeichnet hat, weil sie die Alten dieser Stadt hilflos sterben lassen würden, ist — wenigstens vorübergehend — Ruhe eingetreten. Eine kurze Spanne, wenige Tage lang, schien die Attacke der nach langjähriger Abwesenheit nach Wien zurückgekehrten und in die Dienste der Gemeinde Wien eingetretenen Ärztin ein Fanal zu werden. Doch dann geriet das Ganze auf ein falsches, vom Standpunkt einiger Interessierter freilich allzu richtiges Geleise, indem sich die Erörterungen auf die Frage zuspitzten, ob Frau Dr. Kars leichtfertig verallgemeinert und damit die Ärzteschaft verunglimpft habe. Aus der Anklage, in Wien werde „passive Euthanasie“ betrieben, wurde ein „Fall Dr. Kars“.

Frau Kars war zweifellos unvorsichtig und temperamentvoll genug, einige Formulierungen zu gebrauchen, die es leicht maohten, die Spitze gegen sie selbst zu kehren. Doch man kann von dem, was die Ärztin dem Bürgermeister geschrieben (und was er möglicherweise zunächst gar nicht gelesen hat) einige krasse Formulierungen streichen — die Anklage, die übrig bleibt, ist handfest genug.

Sie besteht vor allem aus zwei Vorwürfen. Dr. Kars registriert:

• Einen Skandal in den Spitälern, „wo Menschen dieser Altersgruppe, wenn sie überhaupt das Glück hatten, hineinzukommen, vorzeitig und mitleidlos wieder nach Hause transportiert werden“.

• Einen Skandal in der medizinischen Versorgung alter, alleinstehender Menschen, denen die Gesundheit nicht mehr wiedergegeben werden kann und die von den praktischen Ärzten — Kars zufolge — mit ihren Schmerzen und in ihrem Todeskampf alleingelassen werden.

Es ist sicher keine Ausrede mitleidloser Ärzte, wenn Frau Dr. Kars entgegnet wird, die praktischen Ärzte seien zum Großteil dermaßen überlastet, daß ihnen die medizinische Versorgung von Pflegefällen (die kaum noch aus mehr besteht als aus der Verabfolgung von schmerzstillenden Mitteln und Sedativen) einfach unmöglich sei. Es kursieren Vorschläge, das Elend dieser Menschengruppe zu mildern — die meisten von ihnen haben wenigstens in naher Zukunft kaum Chancen auf Verwirklichung.

Einem bedeutenden Teil der Betroffenen könnte trotzdem einigermaßen geholfen werden — würde nicht unser ASVG der Menschlichkeit einen schweren Riegel vorschieben. Denn die Spitäler stoßen unheilbar kranke, alte Menschen nicht aus Herzenskälte hinaus und auch keineswegs immer nur deshalb, weil sie ein Bett für einen jüngeren Menschen freimachen wollen. Menschen, denen nicht mehr geholfen werden kann, fallen vielmehr jener gesetzlichen Bestimmung zum Opfer, derzufolge die Krankenversicherung sich von jeder Leistung befreien kann, wenn nach dem Stand der medizinischen Erkenntnis eine Besserung im Zustand eines Patienten nicht mehr zu erwarten ist.

Denn die Krankenversicherung ist nur dazu da, die Heilung Kranker finanziell zu ermöglichen, ist aber für Pflegefälle nicht zuständig. Anderseits ist in den reinen Pflegeanstalten für eine große Zahl von Betroffenen kein Platz bzw. sind sie längst nicht mehr am Leben, wenn sie auf der Warteliste vom 918. Platz auf den ersten vorgerückt sind.

Dabei wurde das Prinzip, die gesetzliche Krankenversicherung habe nur für reine Heilungskosten aufzukommen, mit der Einführung der Vorsorgeuntersuchungen durchbrochen. Allerdings mit einem kräftigen Seitenblick auf die ersparten Millionenbeträge, die anderenfalls für die Heilung von Krankheiten, die nun durch die Vorsorgeuntersuchungen früh erkannt und billig geheilt werden sollen, aufzuwenden wären.

Bekanntlich wird man für die vorsorgemedizinischen Untersuchungen Beträge in der Größenordnung von etwa zwei Prozent des Beitragsaufkommens benötigen. Eine Reform des „Hinauswurfparagraphen“ würde nominell ebensoviel kosten, in Wirklichkeit weniger, wenn man die „Umwegsrentabilität“ berücksichtigt. Denn schon jetzt werden alte Menschen, denen kein Arzt mehr helfen kann, oft aus Gründen der Humanität so lange wie möglich in einem Spital gehalten — bis eben der Mann von der Gebietskrankenkasse kommt und, ebenfalls oft nicht ohne Mitleid, nach einem Blick auf den Patienten sagt: „Aha. Naja — eigentlich ... Also schön. 14 Tage kann ich noch verantworten. Aber mehr ist wirklich nicht drin.“

Siech oder halbsiech wird der Patient dann heimgeschafft — nicht selten nur noch, um zu sterben. Eigene Abteilungen für solche Menschen würden Geld kosten, aber auf der anderen Seite auch Geld sparen. Denn die Betten an hochqualifizierten Abteilungen, die menschlich empfindende Oberärzte solchen Patienten für einige Tage zur Verfügung stellen, weil die einzige Alternative der Hinauswurf wäre, kosten 900 bis 1100 Schilling pro Tag, während in reinen Pflegeabteilungen mit vielleicht einem Drittel dieses Betrages das Auslangen gefunden werden könnte.

Der sogenannte Lebensqualitätsplan der ÖVP sieht nunmehr die Reform des „Hinauswurfparagraphen“ vor, was aber Kenner der gegenwärtigen innenpolitischen Szene eher als einen Hemmschuh für die Verwirklichung betrachten. Weil sich ja — nicht zuletzt an der Spitze der Regierungspartei — mehr und mehr der Justaimentstandpunkt als Prinzip der Innenpolitik herauskristallisiert.

Eine umfassende Lösung dieses leider nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ erstrangigen, drängenden Problems müßte freilich viel tiefer gehen und auch oder gerade die psychologischen Faktoren der Altersmedizin berücksichtigen, wobei die schwierige Psychologie alter Menschen deren Probleme, wenn sie krank werden, potenziert.

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