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In Wirklichkeit…

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„Die hier vorgelegte Studie entstand aus Streifzügen durch die Gegenwartssprache.“ Kündigt die „Vorbemerkung“ zu „Wirklichkeit und Realität — Kritik eines modernen Sprachgebrauchs“ von Johannes Kleinstück an. Der Verfasser geht aus von einer Bemerkung des Grafen Leinsdorf, der in dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (Robert Musil) eine wichtige Rolle spielt Es geht um die Wendung „der wahre Sozialismus“, die freilich zur Voraussetzung hat, daß es auch einen unwahren Sozialismus geben müsse; denn sonst wäre das Attribut „wahre“ entbehrlich. Immerhin hatte damals (1913) schon der Streit darüber begonnen, welche Marxismus- auslagung sich Sozialismus nennen dürfe und ob er überhaupt notwendig von Marx hergeleitet werden müsse. Der Ausgangspunkt mag also politische Ansichtssache gewesen sein, alsbald wird daraus ein Sprach- problem.

„Wahr“ und „wirklich“ sind heute vielfach bedeutungsgleich; beide Adjektive werden in adverbialer Form gern als .Zusatz’… verwendet und zeigen damit einen Begriffszerfall an. In jüngster Zeit sprach man auch gern von echt: Es gab echte Gespräche, echite Begegnungen, und es gibt sie gelegentlich noch jetzt…" Diese Formulierung stimmt zumindest für Österreich nicht; von „gab“ und „gelegentlich“ kann keine Rede sein, weil kein Redner und nur wenige Schreiber hierzulande ein Problem zu erörtern und eine Lösung vorzuschlagen wagen, ohne zu betonen, daß es sich um ein echtes Problem und um eine echte Lösung handle. Die Verlogenheit des Redens ist für die Redner grundsätzlich evident, so daß ihnen jede verbilligte Wahrheit erst kraft der Bedeutung einer echten Wahrheit einigermaßen glaubwürdig erscheint. Johannes Kleinstück äst es jedoch in der vorliegenden Schrift • nur um den Spezialfall „Wirklichkeit un£ Realität“ zu tun und zuletzt um den Literatenstreit, einen „wahren Realismus“ betreffend, der bekanntlich auch einen politischen Akzent aufweist. Nur der erste der fünf Abschnitte des kleinen Buches enthält Streifzüge. Da ist der Titel einer Romanfolge „Die wirkliche Welt“ (Louis Aragon), der allerdings pointiert gemeint war, weil der zum Kommunismus und zu einem von diesem vorgeschriebenen sozialistischen Realismus bekehrte vormalige Surrealist mit „Le monde rėel“ sich wörtlich von seiner literarischen Vergangenheit lossagen wollte. „Die wirkliche Wirklichkeit“, von Musil ironisch überspitzt, wird in einem Buch über Deutsche Romantheorien“ zustimmend, aber weniger bedacht, abgehoben von einer „barocken Wirklichkeit“, und der Vorsitzende des Staatsrates der DDR

äßt, in typischer Politikerrhetorik, ien mitarbeitenden Menschen dort ur „realen Wirklichkeit“ werden, luch der mehr dialektisch als stili- tisch gewichtige Georg Lukäcs ichreibt von der „realen Bewegung ler realen Widersprüche in der Ge- ellschaft“, aber das so merkwürdig unwirkliche Reale in vermeintlich lenkenden Köpfen findet sich auch chon bei Oswald Spengler, der den -,euten „Angst vor der Wirklichkeit“ lachsagt (ahne zu ergänzen, wovor de also keine Angst hätten). Ein vestlicher Kultusminister läßt die heutigen, schmeichelnd, „in reali- ätsbezogener Zeit“ leben, Harald Vilson forderte „von den Afrikanern Realismus“, ein deutscher Star- eporter, dorthin entsandt, will „rea- istische Verhandlungen“, franzö- lische Regierungsmitglieder verteidigten „au nom du rėalisme“ die N aff engeschäfte, ein namhafter Germanist schreibt über „Eine in der Wirklichkeit vorstellbare reale Begebenheit“ bei Manie Luise Kaschitz die nichts dafür kann), Max Frisch lötiert ohne Scheu in seinem Tage- >uch, „das Gedicht, das wirkliche“ läbe „die wirkliche Welt nicht zu icheuen“, Siegfried Melchinger end- ich und andere reden von „der Wirklichkeit des Theaters“ — es ist virkiich ein bald 100 Jahre währen des Worttheater, dessen gestelzte Sinnlosigkeit von einem sprach- tauben Saeouium einfach nicht mehi erfaßt werden kann.

Das (und noch einiges mehr) ist die reiche Ausbeute der 16 Seiten de: ersten Kapitels; die weiteren vie: drehen sich um den ewigen Streit was überhaupt Realismus genann werden soll: Ein hochgestochene: Gesellschaftsspiel, bei dem keil Stich zu machen ist; die einen habet Bridgekarten in der Hand, die ande ren Tarockkarten. „Wir beschäftige! uns hier nicht mit Metaphysik, son dem mit Sprachkritik“, beschwör der Autor — ein Meineid — un gibt gleich selber zu, „Ausflüge in dii Methaphysdk“ unternommen zi haben. Da führt kein Weg zurück Bei Gerhard Nebel angelangt, klag er: „Wir bürden der Wirklichkeit zu viel an Bedeutung auf.“ Trotzden läßt er sich allen Ernstes mit den Nouveau roman ein. „Der seinerseit irritierte Leser bemerkt, daß hie die eine Hand nicht weiß, was di andere tut..Das ehrt den Autoi hilft ihm aber nicht mehr aus de Patsche. Er bringt fast alles mit, wa ein Phrasenjäger haben muß, ähr fehlt nur eins; der rettende Hum®] Denn die Dummheit, auch wenn si philosophiert, bleibt dumm. Un wenn man ihr das lachend in Gesicht sagt, fällt ihre ganze Philo sophie ‘in jenes Nichts zusammei das sie immer war.

WIRKLICHKEIT UND REALITÄT. Von Johannes Kleinstück. Emst Klett-Verlag, Stuttgart 1971. 98 Sei ten. DM 5.80.

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