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Jedem sein Karl Marx, jedem sein Dissident

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Das kulturell und politisch interessierte Italien wurde im Spätherbst mit der Dissidentenfrage geradezu bombardiert. Vor Eröffnung der Biennale von Venedig tagten Anfang November die Salon-Kommunisten der „Mani- festo“-Gruppe ebenfalls in der Lagunenstadt.

Die linkskommunistischen Intellektuellen um die Zeitschrift „H Manifesto“, die sich 1967 von der KPI getrennt hatten, luden zahlreiche Gesinnungsgenossen aus Ost und West ein, und benützten die Gelegenheit, um im Zeichen der Neuen Linken heftig Kritik sowohl an der Sowjetunion und „ihren unverzagt stalinistischen Methoden“, als auch an den USA und allen anderen „kapitalistisch-ausbeute- risch-imperialistischen“ Ländern zu üben. Ein Sprecher ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: „Wenn ich zwischen Hitler und Stalin wählen müßte, würde ich Hitler vorziehen; der war wenigstens ehrlich bei der theoretischen Vertretung und praktischen Durchführung von Gewaltmethoden.“

Während der den Dissidenten- Künstlem der Oststaaten gewidmeten Biennale kam es zu nicht minder langen Debatten über den engen S

einer freien künstlerischen Gestaltung im Machtbereich der Sowjetunion. Daß nur wenige prominente Maler und Bildhauer der Einladung zu dieser Ausstellung Folge geleistet haben, weil aus Angst vor den Schikanen der Behörden offensichtlich die meisten von ihnen auf eine Beteiligung verzichtet hatten, wurde des langen und des breiten erörtert und als weiterer Beweis der geistigen Bevormundung im riesigen Machtbereich des Ostblocks dargestellt. Der Organisator der Veranstaltung, Ripa di Meana, ein Linkssozialist, wurde beauftragt, sich mit einer Liste der an der Ausreise gehinderten Personen nach Belgrad zu begeben, um der Sicherheitskonferenz vor Augen zu führen, wie sehr die Menschenrechte jenseits des immer noch ziemlich „eisernen“ Vorhangs mit Füßen getreten werden und die Anwendung des Helsinki-Abkommens in diesem Teil Europas nach wie vor zu wünschen übrig läßt.

Verlor sich die Biennale der Dissi- denten-Kunst, nicht zuletzt wegen der schwachen Beteiligung der Protagonisten, im allgemeinen, so waren die Hearings des Sacharow-Untersu- chungskomitees in Rom sehr konk

gerade in ihrer individuellen Form um so wirkungsvoller. Dreißig Persönlichkeiten (wie der ukrainische Kardinal Slipy) berichteten über die erlittenen Torturen; über Entsagungen und Schikanen in einem sibirischen Arbeitslager, einem Gefängnis oder einer Irrenanstalt. Ergreifend war es, als der Kirchenfürst nach seiner Aussage einen ehemaligen Leidensgefährten wiedererkannte und ihn umarmte.

Das Traurigste von all dem Traurigen, das in Venedig und Rom zur Sprache kam, ist nicht das Schrecknis einer Gewaltherrschaft, die auch nach Stalins Tod stalinistische Züge bewahrt hat und ihre Widersacher bevormundet und knechtet, in einem für westliche Begriffe unerträglichen Ausmaß. Ärger scheint die politische Manipulation in und mit diesen Veranstaltungen zu sein. In Venedig und Rom wurden mehr Energien darauf verwendet, politisches Kapital aus den Mißständen in den Oststaaten zu schlagen, als Mittel und Wege für eine Verständigung unter Menschen, die guten Willens sind, zu suchen.

Die „Manifesto“-Veranstaltung diente den Linkskommunisten, um ihre Treue zu Marx und Lenin neben ihrer Kritik an Stalin und Breschnjew zu dokumentieren. Daß die KPI die Biennale der Dissidenten-Künstler in den Oststaaten nur am Rande erwähnte und die Sacharow-Hearings noch stiefmütterlicher behandelte, war den Rechtsstehenden, aber

en Linkskommunisten, ein Beweis dafür, daß Berlinguers Eurokommunisten im Grunde genommen Befehlsvollstrecker des moskauhörigen Weltkommunismus sind und daß ihr Bekenntnis zu einem „besseren“, freieren, demokratischeren Kommunismus nur ein taktisches Manöver zur Beruhigung gutgläubiger Idioten darstellt

Der einzige, der aus den verschiedenen Dissidententagungen einigermaßen ungeschoren hervorging, war der alte Karl Marx. Alle seine Enkel und Urenkel stimmten darin überein, daß Stalin in der Sowjetunion das tiefere Anliegen des Marxismus, die Verwirklichung eines freien Sozialismus, verraten und nur die Rückkehr zu „Karl (Marx) dem Großen“ im zivilisierten, freien Westen der Welt das Arbeiterparadies bescheren könne. Bestätigten all die direkten und indirekten Berichte über die Unterdrückung jenseits des Eisernen Vorhangs, daß Stalin immer noch nicht tot ist, so zeigten all die Bekenntnisse zur Systemkritik des Kapitalismus, daß Marx, allen Todesanzeichen der letzten hundert Jahre zum Trotz, auch heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, noch nicht gestorben ist.

Das vielleicht Bedenklichste ist die geringe Aufmerksamkeit, die allen drei Veranstaltungen von seiten der öffentlichen Meinung Italiens zugekommen ist. Der Bürgermeister von Rom, Argan, der keine Gelegenheit versäumt, um etwa einer Versamm-

lung zu Ehren der Nazi-Opfer, chilenischer Flüchtlinge oder auf dem Arbeitsplatz verunglückter Werktätiger beizuwohnen, hielt es nicht für wichtig, sich die Sacharow-Hearings auch nur anzuhören.

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