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Kinder sollen spielen, toben, laut sein dürfen

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Die von der ÖVP veranstaltete Enquete zum Thema „Kinder in der Großstadt” war ein wichtiger, wenngleich nicht voll ausgeschöpfter Beitrag zu einem bislang eher vernachlässigten Problem. Daß unser „Jahrhundert des Kindes” den kindlichen Lebens- und Entfaltungsraum arg beschneidet, hat sich inzwischen herumgesprochen. Er wird beim Wohnungsbau ebensowenig berücksichtigt wie bei der Schaffung von Freizeiträumen und der Anlage von Spielplätzen.

Auf diese Probleme hinzuweisen, das Recht des Kindes zu betonen, bemühten sich unter anderem der bekannte Kinderarzt Prof. Theodor Hellbrügge aus München, der Soziologe Prof. Henrik Kreutz aus Hannover, Dr. Fritz Proustka vom Institut für seelische Gesundheit in Mannheim und Prof. Waldemar Feiner von der pädagogischen Akademie in Linz.

Facit: Kinder müssen toben, Kinder müssen spielen, Kinder müssen auch einmal laut sein dürfen, und sie sollen sich vor allem schöpferisch betätigen, da „in unserer hochtechnisierten und leistungsorientierten Welt kognitive Fähigkeiten einseitig überbewertet werden”(Feiner). Sie sollen darüber hinaus besser in das Geschehen der Gesellschaft integriert und bei der gesamten Stadtgestaltung berücksichtigt werden. Spielplätze, so hieß es weiter, seien „Kinder-Deponien”, die in keiner Weise den Bedürfnissen der Kinder entsprechen.

Diesen dankenswerten Ausführungen folgte die Feststellung, daß in Wien in dieser Hinsicht im Vergleich zu anderen westlichen Städten besonders wenig geschieht (Kreutz), wobei die „geringe oder fast völlig fehlende Re- fo rmbereitschaft der öffentlichen Stel len” eine entscheidende Rolle spiele. Außerdem wurde dem „goldenen Wienerherz” Kinderfeindlichkeit bescheinigt, die auch den Charakter der öffentlichen Einrichtungen bestimme.

Kinder leiden in Wien unter beengenden Raumverhältnissen (1 bis 2 Quadratmeter durchschnittliche Spielfläche pro Kind), was sich gerade bei kinderreichen Familien nachteilig auf die gesamte Familiensituation auswirke.

Die „gefährdete Familie” und damit im Zusammenhang die Funktion der Frau war häufiger Diskussionsgegenstand. Er geriet in der Folge in den Mittelpunkt der Ausführungen - und damit wurde auch das eigentliche Dilemma dieser Veranstaltung sichtbar.

Denn während Prof. Hellbrügge eine der Hauptursachen für die steigende Zahl verhaltensgestörter Kinder in der zunehmenden Berufstätigkeit der Frau sah, Dr. Proustka die Depressivität isolierter Mütter untersuchte, Prof. Kreutz davon sprach, daß Frauen 85 Prozent ihrer Zeit innerhalb ihrer vier Wände mit äußerst reduzierten Erlebnismöglichkeiten verbringen und Prof. Fritz Wurst die Gründe für eine zunehmende Scheidungsrate erforschen wollte, kamen jene, die das alles unmittelbar betrifft, die Frauen nämlich, kaum zu Wort. Denn abgesehen von Landtagsabgeordneter Dr. Marilies Flemming, die in einem ziemlich allgemein gehaltenen, die Aussagen ihrer Vorredner im großen und ganzen zusammenfassenden Schlußreferat auch das „Recht der Frau auf Arbeit” und die Gefahr einer „vaterlosen Gesellschaft” betonte, haben sich an jenem Abend ausschließlich Männer zu diesem Thema geäußert (sollte sich tatsächlich keine kompetente

Frau gefunden haben - um so schlimmer).

Eine anschließende Publikumsdiskussion schaffte zwar für Frauen etwas Luft konnte jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß hier wieder einmal über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde (der Einwand einer Diskutantin zum Beispiel, ein Grund für die steigende Scheidungsrate - die ja nachweislich überwiegend von Frauen herbeigeführt wird - könnte vielleicht auch in einem zunehmenden Emanzipationsbedürfnis liegen und damit Ausdruck der Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle sein, wurde vom versammelten, männlichen Auditorium nicht einmal verstanden).

Weder die Frau, noch das Kind, um das es ja in dieser Tagung eigentlich ging, kamen zu Wort, wobei das Argument, letzteres könnte sich nicht artikulieren, nur teilweise seine Berechtigung hat. Uber Spielplätze zum Beispiel, Freiräume, Spielmöglichkeiten können Kinder sehr wohl Auskunft geben.

Und so mußte auch ein wirklich tragfähiges Ergebnis ausbleiben. Denn selbst wenn sich am folgenden

Tag in den Arbeitskreisen eine gewisse Lockerung zeigte und hier auch mehr Frauen zur Mitarbeit herangezogen wurden, blieb das vielleicht größte und dringlichste Problem offen: nämlich die Frage nach einer gesunden Familiensituation. Frauen, die unmittelbaren Bezugspersonen der Kinder, hatten wenig oder keine Möglichkeit, über ihre Eindrücke, Vorstellungen, Vorschläge zu sprechen. Sie hatten keine Gelegenheit, im Zusammenhang damit ihre eigenen Probleme aufzufächern.

Daß sie in ihrer Funktion als Nur- Mutter und -Hausfrau isoliert sind, mußte ihnen von einem Mann gesagt werden. Es wurde zwar die Notwendigkeit betont, das Hausfrauendasein in der öffentlichen Meinung aufzuwerten (Hellbrügge), aber wie das geschehen sollte, das heißt, wie die Frau selbst, eingesperrt in ihre vier Wände und in ihre Mutterfunktion und ausgeschlossen vom politischen, öffentlichen und gesellschaftlichen Leben, ihr Dasein als sinnvoll erkennen soll, darüber wurden nicht einmal Andeutungen gemacht.

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