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Man zielt nicht auf einen Menschen

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Angerufen durch ein aktuelles Moment taucht oft ein Satz aus meiner Erinnerung auf, so präzise und kompromißlos, wie er in ferner Kinderzeit immer wieder gefallen war: Man zielt nicht auf einen Menschen.

Das zum Dogma erhärtete Gebot von damals, immer im Ton ruhiger Unfehlbarkeit ausgesprochen und niemals in Frage gestellt, war von der elterlichen Autorität erfolgreich in uns gepflanzt worden und hat sich unausrottbar eingewurzelt. Man zielt nicht auf einen Menschen, auch nicht im Spiel und zum Spaß, auch nicht mit einer Spielzeugwaffe. Niemals zielt man auf einen Menschen.

Im Zielen ist das Treffen enthalten als Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, als Absicht oder Wunsch. Auch die fiktive Waffe hat ein Ziel, auf das sie gerichtet wird. Das darf niemals ein Mensch sein. Denn das Leben des Menschen ist tabu.

Damals lag der Krieg noch nicht lang zurück, und die Angst vor Unglück und unglücklichem Zufall war groß. Wenn der Teufel will, kann auch ein Besenstiel losgehen, pflegte man zu sagen. Deshalb mußte das Verbot so perfekt funktionieren wie ein Reflex. Mit einem Tabu spielt man nicht. Es kennt keinen Spaß und hat keinen Humor.

Das Zielverbot gab das Unausgesprochene zu, nämlich den großen Respekt vor der Waffe. In der Waffe ist die Gesinnung des Tötens immer wach und bereit. Die Anschaulichkeit unwiderruflichen Totseins brannte damals noch frisch wie eine Wunde im Bewußtsein der Menschen und ließ auch „unschuldiges" Kinderspiel nicht zu.

Meine eigenen Kinder wuchsen in einer Atmosphäre des leidenschaftlichen Pazifismus auf. Kriegsspielzeug war verpönt. Wenn sie mit ihren Freunden Cowboy spielend ums Haus tobten und reichlich Gebrauch von ihren imaginierten Waffen machten, um sich gegenseitig treffsicher abzuschießen, traf mich dieser Anblick ins Herz. Ich hatte immer den Satz auf der Zunge: man zielt nicht auf einen Menschen. Aber meistens unterdrückte ich ihn. Wenn sie aufeinander anlegten, den Zeigefinger als Lauf vorgestreckt, den Oberkörper durch den gespielten

Rückstoß der Waffe ruckartig bewegten und Schußgeräusche in Salven aus aufgeblähten Backen von sich gaben, hielt ich den Atem an und würgte den Satz hinunter. Denn der feierliche Emst des Verbotes befremdete sie. Daß ich zwischen Spiel und Ernst nicht unterscheiden wollte, verwirrte sie. Die Zeiten hatten sich, zum Glück, geändert, und mit einem autoritären Gebot stieß man nur auf staunende Augen und fragende Blik-ke. Da hätten schon Argumente aus ihrer eigenen Erfahrungswelt vorgebracht werden müssen. Der Krieg war für diese Kinder ein Ereignis aus tiefster Vergangenheit wie zum Beispiel die Türkenbelagerung. - Und vor zu vielem Femsehen konnte man Kinder damals noch bewahren.

Unsere Zukunftserwartungen und -Vorstellungen bestimmen unser Verhalten den Kindern gegenüber. Meine Eltern, die schwere Zeiten erlebt hatten, wollten uns durch Angst vor Unglück bewahren. Ich wollte meine Kinder vor Angst, die schon an sich ein Unglück ist, bewahren. Jede Generation hat ihr eigenes Schicksal und möchte der nächsten ein besseres bereiten. Kinder sind Hoffnungen. Ohne Hoffnung, ohne Wertvorstellungen und ohne ein klares Menschenbild gibt es keine Orientierung für die Erziehung,.

Wo in dem heutigen Chaos aus Gewalttätigkeit, Verrohung und Angst leuchtet uns der Zukunftsstern? Das Femsehen zeigt täglich oftmals, sei es aus Gründen der Information oder der Unterhaltung, wie auf Menschen gezielt und geschossen wird. Der Satz aus meiner Kindheit mutet archaisch an. Dennoch scheint seine Saat nicht nur auf unfruchtbaren Boden gefallen zu sein. Eine wachsende Anzahl junger Männer lehnt den Militärdienst ab und wählt den Zivildienst trotz dessen längerer Dauer. Doch anstatt diese Friedenserklärung als etwas Positives zu akzeptieren, überlegt man, wie durch Sanktionen auf der einen Seite (noch längerer Zivildienst) und Verlockungen auf der anderen (zum Beispiel durch schickere Uniformen, den „Zauber der Montur") die alte Ordnung wieder herzustellen sei.

Anläßlich der beabsichtigten Ankäufe für das Bundesheer hieß es vor kurzem, daß moderne Waffen sich ihr Ziel selber finden. Und der moderne Mensch - wie findet er das seine?

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