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Notwendiger Widerstand

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Ich bin bei Freunden zu Besuch. Sie haben zwei Kinder, einen netten elfjährigen Buben, ein lustiges und kluges zwölfjähriges Mädchen. Man führt mich ins Kinderzimmer, wo die beiden - jetzt schon - an Weihnachtsgeschenken basteln. An der Tür des Kinderzimmers klebt das Fahndungsblatt der Terroristen: 16 finstere Gesichter, Namen und Daten überführter oder potentieller Mörder.

Anderntags werde ich bei anderen Freunden durch das neuerbaute Haus geführt, man ist soeben eingezogen, alles ist so hübsch und komfortabel wie möglich. Uber dem Bett des sechzehnjährigen Sohnes: dasselbe Fahndungsblatt- und über seinem Schreibtisch ein Zitat von Georg Büchner: „Die Welt ist ein Chaos. Der Nihilismus ist der von uns zu gebärende Weltgott.”

Und so in vielen Varianten.

Ein Knopfdruck am Radioapparat, wovon ist die Rede? Von Kidnapping und Sprengstoffanschlag. Die Nachrichten im Fernsehen: desgleichen; Zeitungen,, Zeitschriften, ob Boulevardblätter oder hochgestochene Journale - und schließlich auch diese bescheidene Notiz: es ist immer dasselbe, in erschreckender Verengung auf ein Thema, auf das Thema des illegalen Gewalttäters.

Der illegale Gewalttäter mag zwar materiell auf der Flucht und in die Rattenlöcher des Untergrunds, ins Unsichtbare, Unfaßbare untergetaucht sein, doch über unser Bewußtsein übt er Macht aus; er hat unsere Phantasie an sich gezogen, er färbt unsere Überlegungen, Erwartungen, Befürchtungen. Er konzentriert die Thematik unserer Gespräche auf sich und, was am schlimmsten ist, er lenkt uns von anderen wichtigen Aufgaben unserer Zeit ab, blockiert unsere Beschäftigung mit ihnen, verhindert unsere Selbstfindung.

Wer so viel Öffentlichkeit genießt, übt bereits Macht aus.

So übten die Stammheimer Gefangenen Macht aus, solange ihr Prozeß die Schlagzeilen der Presse beherrschte. Ihre Macht schwand, als das lange Verfahren zu langweilen begann. Dann schnellte der Pegel ihrer Macht wieder hoch, als sie freigepreßt werden sollten. Durch ihren Selbstmord gelangten sie noch einmal in eine fast unüberbietbare Schlüsselposition.

Es liegt nun an uns, ihnen diese Schlüsselposition zu lassen oder zu verweigern.

Ich meine, es .wäre an der Zeit, daß wir Widerstand zu leisten beginnen, freilich nicht so sehr im Sinne der Ablehnung, der Einkreisung, des Zornes oder gar der Rachegelüste.

Fahndung und Suche, Zugriff und Strafe: dieser Vorgang ist und bleibt die Aufgabe der Polizei zuerst, dann der Gerichte.

Ich meine, es wäre an der Zeit, daß wir Widerstand leisten lernten gegen das alle andere Themen überschwemmende Interesse für Terrorismus und politisch-kriminellen Untergrund, Widerstand gegen die in unserer Gesellschaft um sich greifende Sucht nach den Nachtseiten unseres gesellschaftlichen und staatlichen Lebens.

Es ist zwar in einem gewissen Maß natürlich, daß uns die Kehrseite der Normalität, das Abnorme und Monströse mehr reizt als diese, daß von der aufsteigenden Gefahr mehr Spannung ausgeht als von gewährter Sicherheit Aber das alles gilt nur für eine Weile. Dann nutzt sich der morbide Reiz ab. Wir haben es im Krieg erlebt: Als die ersten Bomben fielen, eilte alles zu den Schadenstellen. Als es Bomben regnete, wich die Sensation dem kalten Grausen und schließlich öder Langeweile.

Wollen wir - unter veränderten, doch nicht durchaus unvergleichbarer, Situation darauf warten, bis uns dieselbe Abstumpfung einholt? In diesem Falle nähmen wir uns selbst nicht ernst. Die Problematik unserer Gesellschaft ist nicht das Außenseiter- tum einiger vom Haß manisch Besessener, sondern viel eher die Frage, wie für unzählige Gutwillige der schleichende Nihilismus zu überwinden ist, der uns einreden will, die Welt sei ein Chaos urid profiliere sich nur in Extremen.

Es wird notwendig, sich der Faszination eben des Extremen durch einen Akt des freien Willens zu entziehen. Die Unordnung wird uns nicht aufgezwungen werden können, wenn wir uns ihr nicht freiwillig ausliefern.

Die „Randbemerkungen eines engagierten Christen” geben die Meinung des Autors wieder. Diese muß sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken.

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