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Nur keine Emotionen!

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Immer wieder kann man diese Warnung hören, besonders von Politikern, wenn das Volk, das sie vertreten, mit ihnen unzufrieden ist und dem etwa gar in einem „Begehren“ Ausdruck zu geben wünscht. „Uber Emotionen darf nicht abgestimmt werden“, lautete die nicht sehr glückliche Formulierung im Leitartikel einer großen Zeitung. Am selben Abend sah man im Fernsehen eine Dokumentation über die traurige Kindheit und Jugend eines Häftlings. Ganz bewußt sollten dadurch im Zuschauer Emotionen geweckt werden: Mitleid, Nachsicht, Hilfsbereitschaft!

Was meinen unsere Vormünder eigentlich, wenn sie uns einschärfen, daß wir nicht Emotionen erliegen dürfen und daß von ihnen unter keinen Umständen zu erwarten sei, daß sie „unter dem Druck von Emotionen“ ihre Gesinnung oder ihre Praxis ändern würden, Mehrheit hin, Mehrheit her -? Wenn sie meinen, daß sie nicht einem momentanen Auflodern der Entrüstung nachgeben und eine Rachejustiz einführen wollen, sind wir ganz einverstanden. Sie müßten aber doch eigentlich darauf vertrauen, daß solche Emotionen ohnedies längst ab geklungen wären, bis es zu konkreten Besprechungen käme?

Man spricht von Emotionen und meint Haß oder Angst, als gäbe es keine anderen. Haß und Angst verblenden die Menschen und verhindern ihr friedliches Zusammenleben. Aber Haß und Angst sind nur zu überwinden durch Liebe und Mut, ebenfalls Emotionen, niemals durch Statistiken, deren Fragwürdigkeit sich allmählich herumspricht, und abstrakte Appelle an die Vernunft! Wenn man dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit nicht soweit als möglich entgegenkommt, soweit man nur kann, ohne anderen Menschen Unrecht zu tun, werden wir bald wieder das Faustrecht haben- - Wessen Eigentum nicht mehr geschützt ist, weil Polizei und Gericht sich um „Bagatellfälle“ nicht kümmern können oder wollen, kann man von dem ein ungeschminktes Steuerbekenntnis verlangen oder von ihm fordern, daß er die Kassierin im Geschäft auf einen Irrtum zu seinen Gunsten aufmerksam macht?

Immer wieder lehrt man uns, alles emotionslos zu betrachten, die öffentlich ausgestellte Pornographie ebenso wie die verhunzten Klassiker im Thea ter. Man muß ja nicht hinschauen oder hingehen, nicht wahr? Aber dann herrscht allgemeine Entrüstung über die Gleichgültigkeit von Nachbarn, die die Mißhandlung eines Kindes nicht bemerkt haben, oder denen die alte Frau nebenan tagelang nicht abgegangen ist…

Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Man beteuert, daß es um die Sicherheit der Staatsbürger bestens stehe. Wenn die alten Leute aus den Pensionistenklubs alle schon vor fünf Uhr wieder zu Hause sein wollen, entspringt das offenbar ihrer emotionellen Urangst und hat mit den täglichen Meldungen von Überfällen nicht das Geringste zu tun. Wenn sie dann daheim die Zeitung lesen und in einem Artikel über neue Methoden der Behandlung von Geisteskranken die lapidare Forderung finden, die Ärzte müßten bei der Entlassung „risikofreudiger“ werden, wirkt das zweifellos ungemein beruhigend. Ebenso wie die Tips zum Schutz vor Taschendieben in der Straßenbahn …

Welch merkwürdiger Widerspruch: In Kindergärten, Schulen und Volksbildungsstätten bemüht man sich krampfhaft um Weckung und Entfaltung der „Kreativität“. Die wird aber sehr rasch wieder verkümmern, wenn man alle Emotionen verteufelt - statt sie zu unterscheiden! Denn wer sich nie entrüsten darf, der verlernt auch bald, sich zu begeistern.

Und alle Demokratisierung muß schließlich ins Leere stoßen, wenn man Willenskundgebungen ignoriert, statt sich ernsthaft mit ihnen zu befassen. Im Lande Freuds sollte man wissen, daß die unterdrückten Emotionen die gefährlichsten sind.

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