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Salzburger Melancholie

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Die Möwen, die früher immer an der Salzach waren, sind ausgeblieben. Verlassen sind die grauen Klippen an den Ufern. Faltig und grün fließt das Wasser an den Pfeilern der Staatsbrücke vorbei nach Norden.

Dafür gibt es Wildenten in Salzburg. Die bleiben aber nicht. Wenn die Sonne untergegangen ist, fliegen sie aus dem roten Himmel über dem Mönchsberg, formieren sich zu dunklen Schwingen und rauschen hastig schlagend über die Dächer von Mirabell, vorbei am Turm von St. Peter, das schwerfällige Schiff des Domes entlang, steil hinauf zur Festung, auf die noch die Sonne scheint, und rastlos weiter nach Süden. Die Klippen aber bleiben einsam.

Möglich, daß jeder Flügelschlag der rauschend über Salzburg hinflie- genden Wildenten in den Simsen und Mauern ein kleines Korn lockert: an den Dächern von Mirabell, am Turm von St. Peter, am schwerfälligen Schiff des Domes und an den Fassaden der Festung, und möglich, daß eines dieser kleinen Körner nach vielen Jahren und noch mehr Flügelschlägen zu Boden fällt. Der Regen, der auf die Flügel der Wildenten, auf die Simse und Dächer fällt, wird es hinunterschwemmen zu den möwenlosen Steinen an der Salzach.

Dann vielleicht ist eine Sekunde der Ewigkeit vergangen. Der kleinen Salzburger Ewigkeit. Für die Markus Sittikus und Paris Lodron gebaut haben, in der Leopold Mozart und der große Wolfgang Amadeus weiterleben.

Wie viele Sekunden hat die Ewigkeit?

Welche Uhr schlägt ihre Stunden?

Wann ist sie abgelaufen?

Wie ewig ist die Salzburger Ewigkeit? Wie lange halten ihre ewigen Werte?

Wann heiratet Figaro zum letztenmal? Wann wird Leporello sein Register schließen?

Wer wird überleben in den Schaufenstern: Mozart oder die Würste? Die Lodenmäntel oder Herbert von Karajan, Karl Böhm oder die Handschuhe?

Was ist ewiger: die Getreidegasse oder die halbbekleideten Prozessionen der Fremden? Mozart oder das Festspielhaus?

Wie schnell arbeiten die Wildenten? Wer sind ihre Helfer? Die großen eisernen Vögel, die in Aigen nisten? Deren Gedröhn die Schläge der Glocken erstickt und an den Mauern und Simsen mehr Körner lockert als Millionen Wildenten und die mit dem, was sie aus ihren Fängen lassen, täglich die Getreidegasse nachfüllen und Hellbrunn, den Park von Mirabell und das Festspielhaus.

Wer läßt das Fleisch der steinernen Männer am Residenzbrunnen zerfallen wie das ihrer Schöpfer? Vielleicht ist die Arbeit der Wildenten und der eisernen Möwen bald getan. Möglich, daß es schon spät išt in der Ewigkeit.

Denn in Salzburg verkauft man viel davon. Geld will man für Ewigkeit. Jedem Gast sein Stückchen Ewigkeit.

Am Domplatz dauern die ewigen Werte von 17 bis 19 Uhr. Im Festspielhaus beginnen sie später und sind dafür auch später zu Ende. Durch über 50 Jahre einen Monat lang täglich zirka acht Stunden Ewigkeit.

Wie lange wird der Vorrat noch reichen? Für die Prozessionen, die sich tagsüber mühsam durch die Getreidegasse und abends in die Salzburger Ewigkeitsläden schieben.

Geld zahlen sie für Ewigkeit. Und sind festlich gekleidet wie alle Verewigten. Doch spätestens um 23 Uhr werden die Massengräber geschlossen und die Salzburger Verewigten erstehen auf.

Um diese Zeit brennen auf dem Mönchsberg die eisernen Kandelaber. Feierlich leuchtend flankieren sie das dunkle Leichentuch aus Asphalt, das man über Blumen und Gräser gezogen hat, damit die halbbekleideten Scharen bequemer vor- wärtskommen. Wenn man von dieser Blumenbahre hinunterschaut auf die Stadt, sieht man im Dunkel nicht, wie viele Körner schon herausgebrochen sind aus ihren Mauern und Simsen. Vielleicht fliegt eine Schar verspäteter Wildenten vorbei.

Hart schlagen jede Viertelstunde die Glocken in den Türmen. Kein Licht mehr hinter den Fenstern des Domes. Seine großen Tore sind versperrt. Der liebe Gott macht in Salzburg keine Überstunden. Herr Jedermann stirbt auch nur nachmittags und gegen Eintritt.

Nur Gevatter Tod ist emsig. Er ruft nicht nur am Domplatz. Er ruft vom Spitz von St. Peter und über die Dächer von Mirabell und Hellbrunn, von den Fassaden der Festung und vom Balkon des Glockenspiels, aus den Schaufenstern und an den grauen Klippen an der Salzach: „Jedermann!“ - „Jedefrau!“ - Jedes- dach!“ - „Jedeskleid!“ - „Jedermo- zart!“

Dann fällt vielleicht aus einem Sims der unter geschwungenen Bögen hochmütig über die Stadt schauenden Turmfenster nach dem letzten Flügelschlag das erste Mauerstück.

Schaut man bei Tag vom Mönchsberg hinunter, sieht man die eisernen Möwen ihr Nest anfliegen oder dröhnend weiterziehen über die Festung, höher und lauter als die Wildenten am Abend.

Und man hört die Stadt stöhnen. Ihr Herz ist schwach. Nur mühsam fließt das Blut durch ihre Adem. Immer größer, immer schwerer entwirrbar werden die Klumpen an den Kreuzungen. Nur selten hört man die Glocken schlagen, alle Viertelstunden.

Doch die unten in den Straßen werden zurecht kommen. Auf den Domplatz oder in das Festspielhaus, nach Hellbrunn oder in das Schloß Mirabell oder zu einer anderen Stätte, wo es ewige Werte gibt. Oder andere Werte. Wer Mozart nicht mag, möchte vielleicht die Wurst, wer Karajan nicht kauft, der kauft vielleicht die Lodenmäntel, und.. … sygj.. 9üf KM Böhm verzichtet, braucht vielleicht Handschuhe.

Handschuhe und Lodenmäntel für die ersten kalten Tage, mit denen der Salzburger Sommer manchmal Anfang August schon endet. Dieses Ende ist auf keinem Kalender abzulesen und auf keiner Uhr.

Vielleicht am dunklen Asphalt am Mönchsberg, der noch lange feucht bleibt nach diesen kalten Tagen, oder an manchem schattigen Felsen, auf dem das Wasser erst nach dem ersten Frost versiegt. Und in gelber, roter und brauner Schrift beginnt der Emsige vom Domplatz „Jedesblatt“ in die Bäume zu schreiben. Wohl wird es wieder wärmer nach diesen kalten Tagen, und man kann, Handschuhe und Lodenmäntel wieder ausziehen. Karl Böhm, Mozart und von Karajan verkaufen sich auch im August noch gut. Auch wenn der Sommer, ohne daß man es bemerkt hat, längst schon zu Ende ist.

Die steinernen Männer im Residenzbrunnen vielleicht, die träumen, wenn der Regen von den Flügeln der Wildenten auf ihre blinden Augen fällt, von den vielen reichen Sommern des Markus Sittikus und des Paris Lodron, von der Glorie Mozarts und Hofmannsthals, die sehen mit starrem Blick die Uhr, auf der die kleine Salzburger Ewigkeit abläuft, die ahnen, daß die steinernen Pferde des Brunnens bald davonstürmen werden in die Felsenreitschule, daß Leporello sein Register für immer schließen wird und Figaro bald zum letztenmal heiratet.

Reglos warten sie auf den Tag, an dem die Kandelaber am Mönchsberg verlöschen und Blumen und Gräser aus den Rissen im Asphalt wachsen, an dem der Dom langsam zu versinken beginnt und Erde in die hochgewölbten Turmfenster bricht, an dem ein letzter Flügelschlag die Dächer von Mirabell und Hellbrunn einstürzen läßt und den Turm von St. Peter knickt:,ühdcpn dem die letzte, zu Boden Stürzende Glocke die kleine Salzburger Ewigkeit ausläutet. ..a

Dann werden die Männer im Brunnen auseinanderbrechen in viele graue Steine und Stein sein wie die Steine an den Klippen, auf die dann nach und nach die Möwen zurück - . kehren werden.

(Aus dem Buch „Sentimentale Geographie“, Verlag Styria)

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