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Nicht wenige Engel

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„Sie werden mir doch nicht weis- machen wollen“, sagte der junge Kaplan, „daß Sie allen Ernstes noch an Schutzengel glauben. Mir gegenüber brauchen Sie nicht zu schwindeln, lieber Freund, ich bin nicht verzopft. Schließlich hat doch die moderne Theologie längst nachgewiesen, daß die Sache mit den Schutzengeln auf einem uralten Übersetzungsfehler beruht.“ „Interessant“, sinnierte ich. „Lassen Sie mir Zeit. Ich bin Mitte der Fünfzig, in Ihren Augen also gewiß alt, uralt sogar, und geschwätzig. Gestatten Sie mir — auch wenn ich Ihre Geduld dabei mißbrauchen sollte — eine Antwort auf Umwegen. Falls ich mich recht erinnere, war das so:

Im Winter des Jahres 1948 führte mich eine Geschäftsreise quer durch die Trümmerwelt Nachkriegs deutschlands nach Nürnberg. Spät abends kam ich dort an. Die Stadt war finster, übelriechend, leer und schmutzig wie alle anderen auch, aber ein diskreter Wink mit guten, illegalen amerikanischen Dollars öffnete mir alsbald die Pforten eines neuerstandenen, soeben fertigge- stellten „Ausländerhotels“, einer höchst unsozialen, aber im Notfall überaus willkommenen Einrichtung jener verklungenen und paradoxen Tage, eines Hotels mit Luxusappartements, mit Badezimmern — man denke! — und mit Zentralheizung.

Am nächsten Morgen, als ich die schweren Samtvorhänge auseinanderschlug, streifte mein verschlafener Blick über Schutthalden hinweg, durch die Reste dessen hindurch, was einst ein Bahnhof gewesen war, und traf kerzengerade in die leeren Fensterhöhlen einer Gebäuderuine,

die da verlassen, inmitten verbogener, scheinbar unentwirrbarer Geleise stand. Dabei gab es mir einen Ruck, als hätte ich einen Kontakt berührt. Ich war hellwach, schloß aber die Augen. Mein innerer Blick ging zurück, um fünf Jahre zurück und drehte sich — genau um 180 Grad.

1943. Man trieb uns quer über die Schienen. Wir waren übernächtig und sehr verhungert. Fürsorglich hatte man uns paarweise aneinandergehängt, mit Handschellen. Handschellen sind nicht schlimm: für Totschlägerpratzen konstruiert, waren sie unsereinem längst schon zur vielbelächelten Formalität geworden, denn wir vermochten sie hinter dem Rücken der ahnungslosen Wärter an- und abzustreifen wie die vielbesungenen steifen „Röllchen“-Man- schetten der Großväter. Wichtig war lediglich, dem Selbstbewußtsein der Wärter nicht zu nahe zu treten und ihnen das spannende Vergnügen der langwierigen Aufsperrprozedur nach der Ankunft zu gönnen.

Zu fünft schob man uns in eine Drei-Mann-Zelle dieses kleinen Schubgefängnisses auf dem Nürnberger Bahnhof — und auch das war weiter nicht schlimm, viel zu gut sogar, und der wohltrainierte Instinkt des politischen Häftlings mit jahrelanger Gefängniserfahrung prophezeite uns Schlimmeres. Das Schlimmere traf zu. Die undurchschaubaren Ordnungsprinzipien, die in allen Gefängnissen der Welt zu herrschen scheinen und wenig mit echter Bosheit, viel aber mit dem Unsicherheitsfaktor menschlichen Stumpfsinns zu tun haben, veranlaßten den Oberaufseher des Gefangenentransports alsbald, uns aus der gemütlichen Drei-Mann-Zelle wieder heraus und in die benachbarte Fünfmann-Zelle hinein zu kommandieren, in der bereits zwanzig Mann begonnen hatten, sich wohl oder übel einzurichten. Aufklingendes Protestgeheul, in mehreren Sprachen gleichzeitig, erwies sich als zwecklos.

Es war dunkel geworden, wir lagerten uns, um die Nacht zu erwarten, nach oft erprobter Sardinenbüchsen- Methode auf dem Boden und siehe — es gelang. Keiner mußte stehn. Aber es war eng es war schmutzig, es stank. „Ein Luftangriff fehlte uns gerade noch“, war mein unorthodoxes Nachtgebet, und es dürfte nicht das einzige dieser Art gewesen sein. In der nächsten Sekunde heulten die Sirenen.

Dann klingelten draußen, die Gänge entlang und stiegenabwärts, die Schlüsselbünde der Wärter. Das Bewachungspersonal flüchtete in den Keller. Es wurde still. Wir standen und horchten.

Dann warfen sich, wie auf Stichwort, drei Italiener, gegen die Zellentür, „Aiuto, aiuto“ brüllend, und mit jener Gestik, die der Mitteleuropäer auf der Opernbühne mit Wohlgefallen, in allen anderen Zusammenhängen aber nur mit stum mem Befremden zur Kenntnis nimmt. Aus einer Ecke kam die schneidende Stimme eines Franzosen. „Taisez-vous“, befahl er im Tonfall grenzenloser Verachtung. „Mais taisez-vous done. Sofort. Subito.“ Merkwürdigerweise hatte dieser Ordnungsruf Erfolg. Die Italiener hockten fortan auf der Türschwelle und schwiegen.

Dann begann die Nacht orangenfarben zu flimmern und zu glitzern. „Christbäume“ senkten sich herab, der grelle Lichtschein bohrte sich durch die vergitterten Fenster in die Tiefe unserer Zelle. Aufgereiht standen wir längs der Wände, zwei deutsche Wehrmachtsdeserteure hatten sich kurzerhand und schleunigst die beiden günstigen inneren Mauerecken erobert.

Dann sog der Himmel den Atem ein, stieß ihn heulend von sich und spie Tonnenladungen in den Erdboden. Eisen flog und schmetterte durch Wände, oder stob sirrend ins Ungewisse, Glas platzte und fiel allenthalben, unser Häuschen rollte und stampfte wie ein Schiff auf hoher See. Dann wieder war es, als würden gigantische Kisten, angefüllt mit Porzellangeschirr und mit klimperndem Silberbesteck von Irrsinnigen aus schwindelnder Höhe herabgeworfen, und später wieder klang es wie fallende Kuhfladen, und das war der Phosphor. Draußen brannte es grünlich und silberfarben. Der Bahnhof brannte, Lastzüge brannten. Sollten wir ersticken? Es nahm kein Ende.

Es nahm ein Ende. Durch Staub und Rauch und Flammen dämmerte ein zaghafter Morgen. Wir lagen und hockten und standen, wortlos, erschöpft und gleichgültig. Schlüssel klimperten, man kam nachsehen. Nein, es gab weder Tote noch Verletzte. „Schauts“, sagte ein Wärter, „da zeig ich Euch was.“ Er wies uns die Nebenzelle, die gemütliche, die wir am Vorabend voll Mißvergnügens hatten verlassen müssen. Nun gab es dort weder Dach noch Fußboden. Stumm trotteten wir zurück ins Massenquartier. Einer neben mir betete auf Polnisch.

Einer, der aus Nürnberg stammte, war lebendig geworden, hatte sich an den Gitterstäben emporgezogen und schaute aus dem Fenster. Was stand noch, was stand nicht mehr von der herrlichen Stadt? Ich gesellte mich zu ihm. Im Bahnhofsgebäude klaffte eine breite Lücke, dahinter war eine Straße sichtbar, schräg versperrt von einer enormen Schutthalde. „Das war ein Hotel“, sagte mein Nürnberger, „ein sehr gutes Hotel. Ob man das jemals wieder aufbauen wird —?“

„Gut und schön“, sagte der junge Kaplan, „und was soll’s? Wo bleibt in Ihrer Geschichte der Schutzengel?“

„Ich habe darin“, schloß ich resigniert, „denen einige entdeckt. Gar nicht wenige Engel. Sie nicht?“

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