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Saxa loquuntur

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Aus den hie ästhetischen, hie ideologischen Konformismen der deutschen Nachkriegsliteratur ist Albert Vigoleis Thelen einst ausgebrochen als - nein, durchaus nicht als ein enfant terrible, er war da ja immerhin runde fünfzig, sondern als einer, der statt die Sprache als ein Vehikel von Meinungen und Gesinnungen zu benützen, von der Sprache sich bewegen ließ, bewegen in jeder Bedeutung des Wortes. Die „Insel des zweiten Gesichts“, dieser Schau-Platz seiner „angewandten Erinnerungen“, quillt zwar geradezu über von Stoff, aber ist nicht gestorben mit diesem Stoff; denn sie lebt in der Sprache und deshalb mit der Sprache (um sinngemäß mit Karl Kraus zu reden).

Dieser Insel - dieses Weltalls! - Ritter von der traurigen Gestalt geht nun in den Gedichten so weit, die Sprache selbst zum Sprechen zu bringen; von ihr, der Sprache, glaubt er nämlich, was Goethe den Epimetheus über Pandora sagen läßt: „Sie spricht, du besinnst dich, doch hat sie schon recht.“ Doch betrachtet er die vorhandene Sprache nicht etwa als einen Steinbruch, die Wörter nicht etwa als Bausteine x-beliebiger künstlicher Gebilde, x-beliebigen artistischen Spielens. Er setzt, viel mehr, die Wörter- speziell die verschollenen sowie auch die scheinbar abgebrauchten - wieder in ihre alten Rechte ein.

Das kann - man denke an Arno Holz und an H. C. Artmann - in schierer Altertümelei (ver)enden: Dichtungen gleich fürs Museum gefertigt; berühren verboten! Thelen hingegen übt Wiederbelebung: indem er die Worte so lange wendet (sowohl verwendet und an etwas endet, als auch sie dreht in dem üblichen Sinne); indem er die Worte also wendet, bis dann auf einmal herauskommt, was eigentlich drinsteckt: womit sie durchsetzt sind wie Schiefer von Quarzadern, von dem Glas, wie es bergmännisch heißt.

Erst und gerade dieser .Originalität der Sprache verdankt der Autor seine eigene, die eben deshalb keine krampfhaft bemühte ist:-man merkt keine Absicht, originell zu sein - im Gegensatz etwa zu Arno Schmidt, der immer partout und justament ein Tüpfelchen zu viel auf das i setzt. Wie ganz von selber tun sich bei Thelen plötzlich Doppel- und Mehrfachbedeutungen auf, und scheinbar gewagte Bilder fügen sich ebenso plötzlich zur schieren Selbstverständlichkeit; und das Verblüffende leuchtet als geradezu logisch ein. Jux mischt sich mit Pathos zu Melancholie, ein Wort gibt das andere, und „aus dem vielbereimten Herzen / klingt ein neuer Ton“.

Der Reichtum der Sprache garantiert dem ihr Dienenden aber ja nicht nur den eigenen Ton, sondern stets auch das eigene Thema, die reiche Thematik. Und wo, wie bei Albert Vigoleis Thelen, viel Wort ist, da ist auch viel Welt: diese hier auf rund anderthalb hundert Seiten zusammengedichtete jedenfalls weitet sich vom „Selbstbildnis“ über eines „Büstenhalters Nachtgebet“, über eine „Madonna mit dem Totenwurm“, über „Atlantis“ und über „Todesfieber“ bis zur „Weltenwende“, dem Gang nach Beth-le-hem. Es blüht also endlich wieder einmal in der von den Brecht-Epigonen verkarsteten deutschen Poesie.

IM GLAS DER WORTE. Gedichte von Albert Vigoleis Thelen. Claassen Verlag, Düsseldorf 1979, 160 Seiten, öS 154,40.

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