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Schweden: Von Kopf bis Fuß „verdatet"

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Als ihn zwei zivil gekleidete Polizisten in einem nicht als Polizeiwagen erkennbaren Volvo 245 auf einer Stockholmer Ausfallstraße stoppten, griff Staffan B. instinktiv an seine Brusttasche. Hart fühlte er dort den Führerschein. Das Auto war fast neu, die Reifen in gutem Zustand. Er hatte Sicherheitsdreieck und Autoapo-theke im Kofferraum, das wußte er. Er war nicht zu schnell gefahren. Er hatte den ganzen Tag nichts getrunken.

Zufrieden lehnte Staffan B. sich in seinem Sitz zurück und kurbelte das Fenster herunter: Er konnte der Polizeikontrolle ruhigen Gewissens ins Auge blicken.

Zwei Minuten später war seine Ruhe weg. Die Polizisten präsentierten ihm eine Forderung über 10.000 Kronen, zahlbar sofort. Andernfalls würden sie sein Auto, pfänden. Konsterniert schrieb Staffan B. einen Scheck aus. Wie hatten die Verkehrspolizisten wissen können, daß er eine alte Steuerschuld mit sich herumschleppte?

Vorne in ihrem Volvo hatten die Stockholmer Polizisten ein Mini-Datenterminal montiert. Sie brauchten nur B.'s Autokennzei-chen einzugeben, um in wenigen Sekunden zu sehen, auf welchen Namen der Wagen registriert ist.

Sie konnten sehen, ob der Besitzer einen gültigen Führerschein hatte. Sie konnten sehen, ob das Auto vorschriftsgemäß . registriert war, ob die Abgaben und Versicherungen bezahlt waren.

Aber sie konnten auch sehen, ob der Mann, dessen Führerschein sie in der Hand hatten, auf einer Fahndungsliste stand oder vielleicht Steuerschulden hatte. Staffan B. war in die „Datenfalle" geraten, die Stockholms Polizei gelegt hat. .

Für den Staat ist ein solcher Da-tamat zweifellos sehr praktisch. Schon fordern die Steuerfahnder, selbst mit solchen Geräten ausgerüstet zu werden, um sich am Straßenrand aufbauen zu können und zu warten, bis ihnen ein Steuersünder ins Netz flattert.

Praktisch ist es auch, „Personennummern" zu haben, die den Schweden von der Wiege bis ins Grab folgen. Aller amtlicher Schriftverkehr hat die zehn Ziffern zur Grundlage, die den Schweden erst zum Schweden machen. Jedes Dokument trägt sie. Noch viel praktischer wird es sein, wenn wie geplant ab 1983 neben der Personennummer Familiennummern, Arbeitsplatz- und Wohnungsnummern stehen werden. Dann wird es ein elektronisches Kinderspiel sein, von jedem Schweden herauszufinden, wo und mit wem er wohnt, wie seine familiären Verhältnisse sind und wo er arbeitet.

Um noch ein bißchen mehr zu wissen, den Lohn etwa, die Steuern oder eine genauere Arbeitsplatzbeschreibung, muß man bloß die Angaben der Arbeitgeber oder Steuerbehörde mit dem Personenregister zusammenkoppeln. Der Schwede 1984 ist von Kopf bis Fuß „verdatet".

Wird also George Orwells 1984 mit der totalen Kontrolle des Bürgers durch seinen Staat in Schweden gerade rechtzeitig Wirklichkeit? Greift der totale Staat nach seinen hilflosen Bürgern?

Wer Schweden mit Or-well'schen Maßstäben messen will, liegt falsch. Nicht der Wunsch, die Bürger total zu kontrollieren und zu unterdrücken, prägt Schwedens Datengegenwart, sondern eine geradezu naive Zukunftsgläubigkeit, die meint, mit technischen Hilfsmitteln die bessere und gerechtere Gesellschaft bauen zu können, wie sie meint, daß staatliche Berufsexperten all die Kümmernisse des täglichen Lebens besser beantworten können als der gesunde Hausverstand.

Der Schutz der Gesellschaft vor Ubergriffen einzelner ist Schweden wichtiger als die Rechtssicherheit des einzelnen. Übertriebene Kontrollmaßnahmen? Wer sich nichts zuschulden kommen ließ, braucht auch nichts zu befürchten, ist stets das Gegenargument.

In dem Land, in dem Steuerlisten öffentlich sind, sodaß jeder sehen kann, was der Nachbar verdient und wieviel Steuern er zahlt, soll niemand etwas zu verbergen haben. Wer Bedenken hat und dagegen spricht, macht sich verdächtig.

Erst langsam wird die Kritik an der totalen Kontrolle lauter — und sie kommt interessanterweise vornehmlich aus dem konservativen Lager. Die zuständigen Behörden können die Kritik jedoch nicht verstehen. Der Generaldirektor des Statistischen Zentralbüros verglich die Angst vor der Datenbank mit der kindlichen Angst vor Hexen und Gespenstern: „Niemand hat je durch Zahlenkolonnen Schaden erlitten."

So wachsen dem Kontrollstaat ständig neue Blüten. Zur Kontrolle durch die Behörden kommt die gegenseitige Kontrolle: Mit raffinierten Gesetzen haben die Gesetzgeber die Schweden zum Wächter der Schweden gemacht. Läßt einer sein Haus reparieren, so tut er gut daran zu kontrollieren, ob der Handwerker auch pflichtgemäß seine Abgaben leistet. Sonst muß der Auftraggeber plötzlich zusätzlich zur Handwerkerrechnung auch noch dessen Arbeitgeberbeiträge zahlen.

Ein kleiner Kaufmann, der einem guten Kunden eine Zeitlang riesige Mengen Zucker und Germ verkaufte, erhielt kürzlich sechs Monate Gefängnis. Der Käufer hatte mit den Waren illegal Schnaps gebrannt — und das hätte sich der Kaufmann denken können, meinte das Gericht und schickte ihn zusammen mit dem Schwarzbrenner hinter Gitter.

Die Gesetzgeber arbeiten an einer neuen Generalklausel: jede Behörde, die durch irgendeinen Zufall Verdacht schöpft, daß irgendeiner ihrer Klienten etwas Kriminelles begangen hat, soll verpflichtet werden, dies der Polizei zu melden. Hat also ein armer Schlucker plötzlich ein paar Tausender in der Tasche, soll das die Polizei auf seine Spur heften. Stellt sich dann heraus, daß der Verdächtige im Toto gewonnen hat, wird sich die Polizei höflich wieder verabschieden. Lieber einmal zu oft kontrollieren als einmal zu selten.

Lieber zu viel Kontrolle als zu wenig. Denn Kontrolle muß sein: Das Wohlfahrtsschweden ist derart kompliziert und komplex geworden, daß es nur zwei Wege gibt, seinen durch widersinnige Ausnützung seiner Einrichtungen hervorgerufenen Zusammenbruch zu verhindern: Totale Ehrlichkeit aller Bürger — oder totale Kontrolle. Da man nicht wagt, auf den ersten Weg zu vertrauen, wählt man den zweiten. Ist es ein Wunder, daß immer mehr Menschen im „besten Staat der Welt" unbehaglich zumute wird?

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