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Sehnsucht nach verlorenem Klangparadies

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Wien geht mit zeitgenössischen Opern um, als wären sie Sprengstoff. Anderwärts werden sie nicht nur aufgeführt, sondern sogar Erfolge. So etwa die 1975 in Wiesbaden uraufge- führte Oper „Die Trauung“ von Volker David Kirchner, an die sich nun auch das Münchener Gärtnerplatz-Theater heranwagte — und siehe da, mit großem Erfolg bei Publikum und Kritik!

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Wien geht mit zeitgenössischen Opern um, als wären sie Sprengstoff. Anderwärts werden sie nicht nur aufgeführt, sondern sogar Erfolge. So etwa die 1975 in Wiesbaden uraufge- führte Oper „Die Trauung“ von Volker David Kirchner, an die sich nun auch das Münchener Gärtnerplatz-Theater heranwagte — und siehe da, mit großem Erfolg bei Publikum und Kritik!

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Der 35jährige, in Mainz gebürtige Komponist, sitzt als Bratscher im Symphonieorchester des Hessischen Rundfunks (wer dächte da nicht an den Frankfurter Bratscher Paul Hindemith - doch Parallelen erweisen sich dabei sofort als rein äußerlich) und näherte sich dem Schauspiel „Die Trauung“ des emigrierten Polen Wi- told Gombrowicz zunächst über den Auftrag, eine Bühnenmusik zu diesem Stück zu schreiben (hier ist tatsächlich ein Parallelvorgang zu Fortners „Bluthochzeit“ feststellbar). Je intensiver jedoch Kirchner in dieses Labyrinth des absurden Theaters vorstieß, um so stärker drängte es ihn zur Erschließung dieses Stoffes für das Musiktheater.

Nun stellt sich in diesem Zusammenhang erneut die Gretchenfrage nach dem Sinn der Vertonung eines literarischen Stoffes und im Fall der „Trauung“ von Gombrowicz - 1945 im argentinischen Exil des Autors entstanden - ist eine ganz konkrete Steigerung durch Beschränkung erfolgt: Kirchner hat das Libretto selbst einge-

richtet, hat gekürzt, zusammengefaßt, hinzuerfunden, die Essenz des Stük- kes herausdestilliert und durch seine Klangkulisse gesteigert und überhöht. Dabei zeigt Kirchner einen Sinn für das Theatralische, wie wir ihn in dieser Kühnheit des Zugriffs bei keinem anderen Komponisten seiner Generation finden. Kirchner greift dabei ins Volle, bedient sich aller nur denkbaren Klangmaterialien, nützt alle klangtechnischen Möglichkeiten, baut Klangräume von intuitiver Bildhaftigkeit, ohne dabei ins reine Zitat zu verfallen. So erinnert die Krönungsszene an Mussorgsky („Boris“, sowohl, als auch „Das große Tor von Kiew“), aber ein Notenvergleich zeigt sofort, daß sich hier nur Atmosphärisches assoziativ zu einem Klangerlebnis verdichtet. Die Stimmen werden durch vielschichtige Ausdrucksbereiche geführt, vom reinen Wort über den,Gesang, bis zum stilisierten Schrei. Hört man genau etwa in das Zwischenspiel zwischen 1. und 2. Bild, wird man einen Musiker entdecken, der rein kompositorisch zu subtilsten Klangerfindungen fähig ist, und wenn er selbst von sich sagt, in seiner Musik würde auch die, Sehnsucht nach dem verlorenen Klangparadies mitschwingen, glaubt man ihm das!

Ein Zwischenvorhang deutet das makabre Geschehen an, schwarze Kränze mit Schleifen hängen an diesem Vorhang, auf der Rampe zwischen Zuschauerraum und Orchestergraben liegen zahllose alte, weiße, ausgetretene Brautschuhe. Man blickt in einen hohen, mit weißen, etwas vergübten Laken ausgehängten Raum. (Ausstattung: Herbert Wemicke.) Langsam, schemenhaft setzen sich schwarze Gestalten in Bewegung, ein alter Mann schiebt langsam ein Fahrrad über die Bühne, ein Trauerzug zieht vorüber, und plötzlich scheint die Hauptfigur der Handlung (wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann) zu erwachen: Henrik, ein Kriegsverletzter, der in Fieberträumen seine Heimkehr in ein chaotisches Zuhause durchlebt. Dieser Henrik sucht Geborgenheit, doch das Elternhaus ist zur Kaschemme geworden; Henrik sucht die reine Liebe seiner Braut Ma- nia, doch er findet eine Dirne, er sucht einen wahren Freund, doch Wladzio ist zum besoffenen Heuchler geworden. Die angeschmutzten Laken fallen von den Wänden, Staniolverkleidungen schaffen jetzt schäbige Scheinwelt, von dem kläglichen Mobilar werden die Decken weggezogen, ein grotesker, alptraumhafter Totentanz beginnt, Masken und Fratzen treiben ein gespenstisches Spiel in der Lasterhöhle menschlichen Seelenmülls, und Regisseur Kurt Horres, der suggestive Drahtzieher, gibt mit beängstigender Präzision den schwindelerregenden Blick in die Abgründe menschlichen Unterbewußtseins frei.

Dirigent Peter Falk wird mit den Schwierigkeiten der Partitur, dem ständigen Wechsel von realen Klängen und Tonbandeinspielungen so fertig, daß man nur von einer optimalen Interpretation sprechen kann. Den Henrik stellt Eike Wilm Schulte dar, jener Henrik der Wiesbadener Uraufführung von 1975, ein Sänger-Darsteller von bestürzender Eindringlichkeit, jedoch nahtlos in das Ensemble des Gärtnerplatz-Theaters integriert, das sich an dieser komplexen Aufgabe hervorragend bewährte.

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