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Sind Sie auch im Streß ?

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In früheren — meist sehr viel XXI. härteren—Zeiten war man im Trubel, in einer Hetzjagd, man war unter Druck, man war angespannt, war überlastet, entsprechend nervös, überreizt, konfus, kaputt, man war allenfalls überfordert (und hätte sich schon vor sich selber geniert, dies auszuposaunen). Doch seit jeder Affe und Laffe die Universität beziehen darf, ja sogar muß, auf daß er nur ja den jeweils modernsten Aberglauben erwerbe, ist man tagaus und nachtein gestreßt.

Man hat zwar bloß nicht genug studiert für die Prüfung, man hat zwar bloß nicht die Termine exakt kalkuliert, und man hat zwar bloß nicht sofort einen Parkplatz gefunden. Man hat zwar bloß über den Durst getrunken. Man hat zwar bloß eine Rechnung zu zahlen versäumt. Man hatte bloß — faktisch und bildlich - den Wek-ker zu stellen vergessen. Man war.

wie die Menschen auch härterer Zeiten, schlampig, zerstreut oder faul gewesen und hat nun die (meist recht banalen) Folgen davon zu tragen: man müßte sich schämen.

Aber just dies hat die neue Bourgeoisie, als die Krone der Schöpfung, pardon: als die Zipfelmütze der Revolution, nie zu lernen für nötig erachtet.

Man hat's ja so herrlich weit gebracht: vom Parteibüchel bis zum Aktienpaket. Non olet. Kein Grund, sich zu schämen. Im Gegenteil: Grund genug, sich ganz ernst zu nehmen; und die Lizenz, grade dort, wo man schwach ist, sich wichtig zu machen.

Und was nun wäre denn für den modernen Spießbürger — für die entwicklungsgehemmten Bou-vards, für die hinter Flaubert zurückgebliebenen Pecuchets — ernster und wichtiger als die Wissenschaft? Also borgt er sich ihren Appeal: etwa dort, wo er dem, was zu tun wäre, sich nicht gewachsen fühlt, mit dem (falsch verstandenen, falsch verwendeten) Worte „Streß". Akademisch beglaubigt, steigert, das simple Wehweh sich zum tragischen Schicksal.

Und weil der Güter höchstes, nach Schiller, ja nicht das Leben, sondern, nach neuester Wissenschaft, die Gesundheit ist, redet man über diese schon nur mehr im Vokabular der Beipackzettel von Medikamenten:

„Ich bin jetzt so antriebs-schwach."

„Nein, bei mir ist es mehr das Symptom der Getriebenheit."

„Wahrscheinlich achten Sie viel zuwenig auf Ihren Biorhythmus."

„Ich brauchte mehr affektive Äquilibrierung."

„Anxiolytika sprechen bei mir nicht an."

„Und bei mir sind sie kontraindiziert."

„Ja, wenn die Störungen mehr erlebnisreaktiv sind?"

„Es sind Depressionen."

„Endogen oder exogen?"

„Eigentlich pathogen."

„Nun, da sehn Sie ja gleich: es ist vasomotorisch."

„Ich fürchte ja selber, es ist ein Syndrom."

„Es ist ein Trauma."

„Es ist zum Kotzen!"

„Sie Hypochonder! Ich, wenn Sie mich fragen, ich würde sagen, dies alles ist einfach ein Vomitori-um.

Dazu der Witz des Jahrhunderts, wohl wert, aufs nächste Jahrtausend tradiert zu werden. Der Psychiater eröffnet seinem Patienten am Ende der Analyse: „Das ist kein Komplex, Sie sind minderwertig."

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