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So war es — war es so?

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„Gibt es etwas Absurderes, als von Hitler durch Stalin befreit zu werden?“ fragt der Maler Hans Hemmelmann, Protagonist von Rudolf Henz, in dem neuen Roman, der uns durch die Geschichte Österreichs von 1938 bis 1945 führt.

Zu dieser Absurdität kam es deshalb, weil Österreich, dieses mehr- oder gar vieldeutige Land, nicht nur einen Schönberg, einen Wittgenstein oder den „Wiener Kreis“ um Moritz Schlick hervorgebracht hat, sondern gleichzeitig auch die vielleicht „zeitgemäße-ste entartete Figur“, nämlich Adolf Hitler.

Leitmotivisch geht die Frage durch das ganze Werk: Wo endet die „Artung“ und kippt in „Entartung“ um? Ist die „entartete Kunst“, der Hemmelmann nahe steht, der Versuch, aus dem ödemhaft anschwellenden Wust falscher Ansprüche das Wesenhafte wiederum herauszuschälen? Was hat Rudolf Henz bewogen, Fragen, welche ja schon in seiner Selbstbiographie aufgerollt worden sind, nun in einer fiktiven Dichtung zu behandeln?

Je tiefer wir in das Werk eindringen, desto stärker wird die Uberzeugung, daß eben nur der Roman es vermag, die Ereignisse „in statu nascendi“, also in dem unfertigen und ungewissen Zustand des Werdens zu vergegenwärtigen.

Die Vorgänge in ihrem Werden fühlbar zu machen, ist die Zielsetzung dieses großangelegten Werkes. Welcher Rang einer solchen Aufgabe zukommt, geht auch daraus hervor, daß sich nur wenige Autoren bewußt sind, welcher Aspekt hinter einem solchen historischen Roman steht, wie ihn Henz geschaffen hat Und wir müssen bis auf Herder zurückgehen, wenn wir eine klare Formulierung dessen suchen, worum es Rudolf Henz geht. Er will das „Geschehnis-an-sich“ darstellen.

Wie das „Ding-an-sich“ hinter der Erscheinung, so liegt das „Geschehnis-an-sich hinter dem Getümmel von Mißverständnissen, Fehlurteilen, der Zitterbewegung von Millionen Nerven, die bei all dem „guten Glauben“ in zermalmende Widersprüche geraten. Erst dann, wenn wir die Subjektivität des Zeitbegriffs, den Wechselwinkel in der Betrachtung von Generation zu Generation mit in

Rechnung gesetzt haben, können wir das Ahnungsvermögen für das, was wirklich geschehen ist, vertiefen: Wie z. B. aus dem Nazifanatiker Peter, dem Sohn Hemmelmanns, der Partisan Peter wird und sich im Widerstand bewährt. Wie aus Hemmelmann, dem treuen Gatten, der Eckpunkt eines gleichseitigen Dreiecks zu werden droht, weil Erika, das Fräulein von „Erbsleben“, mit ihrem reichen geistigen Erbe - sie stammt aus Weimar - jene Kulturzone mitbringt, bei der auch der fanatischeste Österreicher schwach wird.

In einem solchen Beziehungsfeld von Gestalten kann Rudolf Henz alle Nuancen ausspielen, mit denen sich die dem Dritten Reich bereits hilflos Ausgelieferten noch Rat schafften, noch ein wenig Selbstbestimmungsraum gewinnen wollten. So etwa die „katholisch Jugendbewegten“, welche den Nationalsozialismus samt Hitler zu taufen hofften.

Im Zentrum steht Hemmelmann, der um die Verwandlung seines „e“ zu „i“ in Himmelmann ringt und doch in der ihm leidvoll bewußten Gefahr lebt, sich als ko-laborierender „Hammelmann“ irgendwo verkriechen zu müssen. Nur der Sohn geht den Weg des Opfers und der Tat. Die Darstellung der Vater-Sohn-Beziehung ist vielleicht das Kostbarste an diesem Roman.

Seinem aus früheren Romanen bekannten Protagonisten Hemmelmann hat Rudolf Henz nun den Schriftsteller Erha hinzugesellt, den Autor des dantesken Terzinenepos „Der Turm der Welt“. Während uns Hemmelmann mit seinem Elan mitreißt, berührt uns Erha mit der Gottesgewißheit eines „Wellenmechanikers“, der überzeugt ist, daß dieser Sender „Gott“ für die Botschaft auf jeder Wellenlänge zuständig und daher auch auf jeder Wellenlänge erreichbar ist.

Uber jedem Kapitel stehen einige Fakten aus der Kriegschronik, die immer exakt datumsgerecht sind, aber inhaltlich nicht zum Roman gehören. So schweben diese Sätze, wie bedrohliche Wolken, als Anzeiger der Großwetterlage am geschichtlichen Himmel.

Ein Alterswerk? Eine von geistiger Leidenschaft vibrierende Prosa, welche sich mit allen Stilmitteln und in allen Denkpositionen, ironisch, burlesk, tragisch und demütig, den großen Fragen stellt und sie am Beispiel des Hitlerreichs für Spätere bewahrt.

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