6860697-1977_35_07.jpg
Digital In Arbeit

Ungarns Prominenz sammelt Wappen

Werbung
Werbung
Werbung

Zweiunddreißig Jahre russischer militärischer Besetzung, KP-Herr- schaft und staatlicher Monopolwirtschaft haben zwar Aristokraten, Grundbesitzer, Kulaken, Bankiers, Fabrikanten ausgerottet oder vertrieben, sie konnten aber die „klassenlose Gesellschaft“ bis dato nicht verwirklichen. Im Gegenteil: volens-nolens wurde eine exklusive Parteiprominenz herangezüchtet, deren Jagd nach Statussymbolen bereits so groteske Formen angenommen hat, daß sich die parteiamtlichen Massenmedien - die einzigen, die es gibt - veranlaßt sahen, einen publizistischen Feldzug gegen die Protzereien der Parteiaristokratie zu führen.

Die sozialen Ränge konnten nur auf dem Papier abgeschafft werden, in Wirklichkeit behaupten sie sich mehr denn je. Wem keine Statussymbole in die Wiege gelegt wurden, der versucht sie eben nachträglich zu ergattern oder um teures Geld zu kaufen. Wer bezahlen kann, der beschafft sich, was er für Merkmale der Vornehmheit hält. Wer man ist, oder wer man zu sein vorgeben möchte, ergibt sich schon seit Jahren aus den Orten, in denen man die Sommerferien verbringt.

Der Doktortitel gehört ebenfalls zu den zur Schau getragenen Statussymbolen, und Radio sowohl, wie die Presse beanstandeten kürzlich, daß manche Leute auf Dokumenten vor ihren oft unleserlich klein geschriebenen Namen ein überdimensioniertes „Dr.“ zu kalligraphieren pflegten.

Radio Budapest übte anläßlich der Graduierungen an den Hoch schulen kürzlich massive Kritik an den aus diesem Anlaß in den teuersten Restaurants veranstalteten Banketten und an den dabei überreichten Geschenken. Goldene Halsketten im Wert von 20.000 Forint für erfolgreiche Absolventinnen seien keine Seltenheit. Junge Männer hinwieder würden auf „Studienreise“ nach Paris oder London geschickt, großzügig ausgerüstet mit dem notwendigen Taschengeld. Natürlich seien es nicht die Kinder von „klassenlosen“ Bergleuten oder Textilarbeiterinnen, die da am Ende des Schuljahres eventuell sogar mit einem Sportwagen von ihren Eltern überrascht urürden. Das ungarische Radio befaßte sich übrigens auch kritisch mit den Bemühungen statusbewußter Familien, sich eine passende Vergangenheit in Form von angeblicher aristokratischer Abstammung beizulegen. In den Wohnungen der Arrivierten prangen nämlich Wappenschilde, womöglich auf uraltem Holz, und wurmstichig. Bücherantiquariate werden systematisch durchwühlt. Für ein zerfleddertes Exemplar des „Gotha“ ist man bereit, jeden Preis zu bezahlen.

Laut Radio Budapest ist es ein beliebter Trick, die Selbsterhebung in den Adelstand durch kleine Veränderungen in der Schreibioeise des Familiennamens zu bewerkstelligen. Aus kleinbürgerlichen Namen, die mit den Buchstaben ,fi“ oder „ti“ enden, werden über Nacht durch die altertümliche Schreibweise ,ffy“ oder „thy“ urmagyari- sehe Magnatentitel.

Die Statussymbolmanie ist nicht nur auf Budapest beschränkt. Kolchosdirektoren amtieren in Büros, die sich an der Wallstreet sehen lassen könnten. Fabriksmanager gründen exklusive Jagdclubs, bauen elegante Weekendhäuser und importieren seltene Tiere aus westlichen Ländern, weil sie es als unter ihrer Würde empfinden, auf gewöhnliche ungarische Hasen oder Fasane zu schießen.

Eine bizarre „Leidenschaft“ der Neuen Klasse ist das Sammeln von ausgegrabenen Totenschädeln. „Vornehme Schädel“, angeblich von historischen Persönlichkeiten, berühmten Künstlern oder Wissenschaftlern stammend, werden von geschäftstüchtigen Schwarzhändlern verkauft und kosten natürlich wesentlich mehr als der Schädel eines ehemaligen Schweinehirten. Als Schreibtischdekoration benützt, sollen die Schädel Ansehen und Würde verleihen. Dementsprechend ihr Preis! Sogar der Durchschnittspreis des Schädels eines unbekannten „Klassenlosen“ belaufe sich derzeit auf 3000 Forint, berichtet die Parteizeitung von Kecskemėt. Wegen der rapide wachsenden Nachfrage, steigt der Schädelpreis unaufhaltsam. Obwohl auf dem Antiquitätenmarkt Ungarns derzeit große Windstille herrscht, finden alle Ty- pen von Schädeln reißenden Absatz.

Allgemeine „Kopfjägerei“ also am Ende der dritten Dekade der „Verwirklichung einer klassenlosen’ proletarischen, sozialistischen Gesellschaftsordnung

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung