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Unheimlich

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Der böse alte Dürrenmatt ist geistig jung geblieben und immer gut für Denkanstöße. Jüngst schrieb er in einer Besprechung des Buches "Deutsche Wahrheiten" von Oskar Lafontaine folgendes: "Nicht gerade ein Großdeutschland, aber ein größeres Deutschland entsteht. Der Schweizer darf sich wieder fürchten. Der alte, nie ausgelebte und herausgeforderte Widerstandsgeist regt sich. Nicht ganz unbegründet. Der deutsche Patriotismus hat etwas Unheimliches. Das Vorrecht der Kleinstaaten besteht darin, daß ihre Bürger patriotisch sein können. Vor einem patriotischen Liechtenstein fürchtet sich niemand, aber vor einem patriotischen Deutschland..."

Der Schweizer darf sich wie-derfürchten, und der Österreicher braucht nicht mehr neutral sein. Der Haider möchte, daß auch der "Anschluß" kein Tabu mehr ist, und die "Deutsche National-Zeitung "fragt in einem Aufmacher "Anschlußverbot auf ewig?"

Natürlich muß in einer Zeit des Umbruchs, der Neuformierung des europäischen Kontinents, auch über die Funktion der Neutralität diskutiert werden, aber grundsätzlich - nicht weil sie plötzlich als lästiger Ballast auf dem Weg in die EG empfunden wird. Wir waren überzeugte Neutrale als uns die Neutralität die Möglichkeit bot, die Freiheit zu gewinnen. Und was sind wir jetzt? Genaues weiß man nicht, denn das hängt von der EG ab. Wenn die EG sagt, die Neutralität sei kein besonderes Hemmnis für eine Aufnahme in die Wirtschafts-gemeinschaft - dann bleiben wir neutral. Und wenn der Weg zur politischen Union rascher be-schritten wird, wenn Neutrale da ein zusätzliches Problem werden könnten - dann werden wir eben entscheiden, was wir sind. Ganz pragmatisch. Auf jeden Fall sind wir willig, in die EG zu gelangen, und willig sind wir, weil wir in die EG hinein müssen.

Es war ganz logisch, daß nach dem Beginn der Neutralitätsdebatte und nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch eine Diskussion über den "Anschluß" wieder aufflackern würde. Umbruch ist's und alles ist erlaubt. Ein bisserlfrüh, zwei Jahre nach dem Bedenkjahr, aber jetzt streicht eben auch über uns wieder einmal der Hauch der Geschichte und da hebt Totgeglaubtes das Haupt. Noch ist alles nicht gefährlich, aber Jörg Haider, der mit dem Feuer spielt, hat im Parlament 33 Abgeordnete sitzen.

Einst hieß es, unsere Neutralität sei eine nach Schweizer Muster. Diese Neutralität hat mitgeholfen, daß wir auf der Suche nach unserer Identität weit vorangekommen sind. Ganz gefunden haben wir sie noch nicht, daher wäre es nicht schlecht, sich ein Beispiel an den Schweizern zu nehmen: Fürchten wir uns ruhig ein bis-serl mit. Vielleicht fördert das die notwendige Unruhe.

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