7035306-1989_46_10.jpg
Digital In Arbeit

Ur-Land zwischen Flüssen

Werbung
Werbung
Werbung

Wir reisten die Donau abwärts durch Ungarn und über dessen Grenze nach Jugoslawien bis an die Mündung der Drau. Unser Ziel war das große Naturschutzgebiet „Kopacki rit“, eine Landschaft aus weiten Wasserflächen, tiefen Flußarmen und Urwäldern, 50.000 Hektar groß, das „Land der tausend Hirsche“, nur ausgewählten Jägern zugänglich, ein Vogelparadies, doch selbst den Naturforschern kaum bekannt.

Im Dorf Aljmas“ an der Donau wurden wir erwartet. Die Hausfrau überließ uns ihr Schlafzimmer und versorgte uns mit köstlichem Essen, der Hausherr war unser Führer zu Wasser und zu Land. Als wir sein kleines Boot bestiegen, für das er zu unserer Bequemlichkeit ein Sitzbrett zurechtgesägt hatte, erklärte er uns mit einer Armbewegung nach Westen: Slawonien; und mit einer nach Osten: Wojwodiria. Ehemaliges, unwegsames Grenzland zwischen Ungarn, Serben und Türken.

Bei unserer ersten Ausfahrt auf dem riesigen Fluß, dessen Strömung man kaum wahrnimmt, sahen wir unzählige Reiher aus den Wipfeln der Weiden auffliegen oder wie Wächter am Ufer stehen. Auf den Sandbänken saßen Kormorane, die kühngewölbte schwarze Brust dem Wasser zugewandt. Wir schrieen unjägerlich auf vor Freude und Überraschung, als Wildschweine aus den Bäumen hervortraten, um im Uferschlamm zu wühlen, und Hirsche, geräuschlos wie Geister, den Flußarm durchschwammen. Wir versuchten uns ins Schauen und Wahrnehmen einzuüben für das Ziel unserer Expedition, das KopaCki rit. Doch wir kamen nicht hin, das Wetter ließ es nicht zu.

Tag um Tag verging, und jeder neue begann mit dem Geräusch des Regens, das wir beim Erwachen in den engenyfeuchten Zimmern vernahmen. Ärger aus Enttäuschung wäre verständlich gewesen. Doch er kam nicht auf. Da war die Gastlichkeit und Herzlichkeit unserer Hausleute, und da gab es, wann immer der Regen nachließ, vieles zu erleben. Als uns einmal ein Gewitter auf der Donau überraschte, fanden wir Zuflucht im Haus der Berufsfischer, dem einzigen Haus in unabsehbar weiter, menschenleerer Einsamkeit. Auf Pfählen errichtet und von Weidengestrüpp umgeben stand es am Ufer vor der silbergrauen Wand des Waldes. Die Männer, die hier zu allen Jahreszeiten leben, wärmten uns mit ihren Jacken und mit Schnaps. Der Fischermeister holte vom Fang dieses Morgens einen Wels aus dem Netz, das bei seinem Boot im Wasser befestigt war, und bereitete uns in Kesseln über offenem Feuer zwischen den Pfählen des Hauses ein Mahl. Wie hätten wir anders als glücklich sein können!

Dennoch, indem die Tage vergingen, wuchs unser Wunsch nach dem KopaCki rit. Doch das Wetter blieb zu schlecht für diese weite Wasserfahrt. Wir gingen im Dorf umher und betrachteten die kleinen, weißen Häuser, deren Giebel aus lehmverschmiertem Weidengeflecht gebaut waren. Da und dort waren die Fenster und das Tor in einem eigentümlichen Grünblau gestrichen, einer Farbe wie aus einer anderen Welt, einer Wasserwelt. Wir waren ihr an den Holzpfosten des Fischerhauses schon begegnet. Dort war sie das natürliche Ergebnis der Verwitterung.

Die Dorfstraße lag unter den Kronen mehrerer Baumreihen. Vor den Häusern standen zierliche Zwetschkenbäume, den Stamm bis zur halben Höhe blütenweiß gekalkt, die Zweige voll reifer Früchte im spärlichen, silbrigen Laub. Wir begegneten Menschen, die in einem altertümlichen sächsischen und schwäbischen Deutsch mit uns sprachen. Man führte uns durch die verwilderten Zwetschkengärten, die das Dorf umgaben, und forderte uns zum Kosten der Früchte auf. Immer wieder wurden unsere Hände mit Trauben, Pfirsichen und den in den Hohlwegen wachsenden wilden Beeren gefüllt. So ging die Zeit unseres Aufenthaltes zu Ende.

Am letzten Tag kletterten wir durch Akaziengestrüpp und mannshohe Brennesseln auf eine kleine Anhöhe. Unter uns lagen die Häuser des Dorfes unter ihren lehmig rosafarbenen Ziegeldächern, und aus den kleinen Höfen drang ein vielstimmiger Chor herauf: Hundegekläff, das Krähen der buntschillernden Zwerghähne, Ziegen-gemecker und vor allem das aufgeregte Geschrei der Gänse, die von den Donauwiesen in ihre Ställe zurückkehrten. Der Zusammenklang dieser Stimmen schwebte wie eine Mückenwolke über dem Dorf innerhalb einer Stille, die bis zum Horizont reichte.

Vor uns breitete sich die Weite der Donau hell wie der Himmel aus, und am gegenüberliegenden Ufer erhob sich düster und rätselhaft, weglos geschlossen, der Wald. Der Blick auf diese große, geheimnisvolle Ruhe ließ uns plötzlich als folgerichtig erscheinen, daß wir das Kopacki rit, das Paradies zwischen den Flüssen, nicht hatten erreichen können. Die Selbstverständlichkeit unserer modernen Naivität, hinzufahren wo immer man will und anzuschauen, worauf immer man neugierig ist, hatte diese Erfahrung nötig gehabt. Das Ur-Land, an dessen Rand wir standen, gehört nur sich selbst. Seine Gesetze sind menschenfern, und seine Mythen leben noch in seinen Elementen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung