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Utopie des Bergpredigers

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Schon die neunte Woche läuft in Graz Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Und immer noch drängen sich junge Leute an den Kassen, auch alte. Ein religiöser Film, ein christlicher Film, abgestimmt auf die Bedürfnisse der Menschen in einer glaubensarmen Zeit?

Aberglaube, die Schrecken der Inquisition und Monster in Mönchskutten tun dem Glauben ebensolchen Abbruch wie der Religionsunterricht, der nach Meinung Erwin Ringels zum vielbeklagten Religionsverlust geführt hat.

Wer nämlich seinen Bedarf an vorweihnachtlich aufgeschlossener Spiritualität im Namen der Rose nicht als gedeckt empfindet, der kann sich sogleich um eine Karte für Erwin Ringels groß af-fichierten Vortrag über den Religionsverlust bemühen. Das Metier ist anders, die Tendenz die gleiche: Christ sein, schön und gut — aber heute?

Das Dr.-Karl-Kummer-Institut für Sozialpolitik und Sozialreform in der Steiermark lud hingegen zu einem „Adventgespräch 1986“ zum Thema „Christ sein heute“ ein. Stadtrat Dolores Bauer aus Wien traf mit ihrem Festvortrag mitten ins grüne Herz

.Österreichs.

Wie Umberto Eco führte sie zunächst in die vergangenen Jahrhunderte, nur tat sie es im Gedenken an die Urchristen, die das Gloria der Heiligen Nacht — „Frieden auf Erden und die Ehre Gottes im Himmel“ — noch wörtlich nahmen. Christsein damals hieß noch, nach der Bergpredigt leben.

Dazwischen liegen viele Jahrhunderte, die — wie Dolores Bauer wörtlich klagt — „vielfältigsten Höllen christlicher Fehlentwicklung“. Und das Ergebnis?

„Es ist kalt geworden in unserem Land, die Leere der Bezie-hungslosigkeit läßt uns erschauern. Was haben wir Christen dem entgegenzusetzen in dieser an Auszehrung leidenden Kirche? Wenig, kaum etwas. Die Blutleere vieler Pfarren. Die oft unglaubliche Fadesse mancher Predigten.

Wie soll denn einer, in dem alles leergebrannt ist, einer, dessen Geist nur noch dazu taugt, Wissen zu speichern, etwas vermitteln können von der Farbigkeit, von der Lebendigkeit dieses ;auser-wählten Wüstenvolkes, von der faszinierenden Geschichte dieser Menschen mit ihrem Gott?

Freilich ist eine Welt, in der Solidarität, Geschwisterlichkeit, Vernunft, Toleranz und Frieden die tragenden Pfeiler des Mitein-anderlebens und -gestaltens sind, eine Utopie des Bergpredigers. Haben wir aber heute überhaupt noch eine andere Chance, als eben diese Utopie hereinzuholen ins Leben, um dem Totentanz am Rande des personalen und des globalen Abgrunds etwas entgegenzusetzen?

Mehr als andere sind wir Christen aufgerufen, hier einen radikalen Anfang zu machen. Wir brauchen dazu keine neuen Modelle, keine neuen Methoden und Strukturen. Die Botschaft ist lebendig wie eh und je.“

Und als sie geendet hatte, waren sie erstaunt. Und betroffen. Betroffen des „unbequemen Wortes“ wegen, wie Landeshauptmannstellvertreter Kurt Jung-wirth, der Obmann des steiri-schen Kummer-Instituts, formulierte. Und war doch wie ein altes Kirchenlied: Ihr Hirten, wacht auf!

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