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Der Dom zu Wien

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In einer unheimlich kurzen Zeit wurde der Dom zu Wien wiederhergestellt.

Nun fallen also die Bretterwände mit den Ankündigungen der Filme und anderer Produkte der Vergnügungsindustrie. Für einige Tage strömt viel Volk in die erneuerten lichten Hallen. Dann geht „das Leben“ weiter. Draußen, vor dem Tor des Doms, von dem der Weltenrichter in großem Ernst und großer Milde auf die vorübergleitenden Fahrzeuge, Mischinen und Menschen schaut.

Die Dome unserer Welt nehmen ihre Rechte wieder an sich. Die Dome also, die wir unserem Erwerbswillen, unserem Wissen, unserem Vergnügen gebaut haben. Es ist ja nicht nur der „Lichterdom“ des Films, jene neue Kathedrale, die tagtäglich leben&hungrigen, lebensdürstenden Massen das Paradies einer Traumwelt im Flimmerbild vorführt, Erlösung andeutend im Happy-End. Es sind nicht nur die Dome der Kultivierten und Arrivierten, die zu gepflegtem Kunst- und Kulturgenuß zu festlicher Stunde aufgesucht werden, Oper also und Konzerthaus und Theater. Es sind nicht einfach nur die Wunschräume und Wunschzeiten, in die sich da, vor dem alten Dom, auf der Straße, im Autobus, Mädchen und Männer, Jungen und alte Frauen vertiefen, mittels einer Kolportageliteratur, die heute, wie die Auflagen zeigen, Millionenmassen nicht missen möchten.

Es . sind, was merkwürdigerweise schon die großen Repräsentanten der romantischen Staatslehre vor mehr als hundert Jahren gesehen haben, die Fabriken ebenso wie die Forschungsstätten und Laboratorien, die Arbeitsorte also des heutigen Menschen, die sich zuallererst als Konkurrenten und Sieger wider den alten Dom konstituiert haben: an diesen Orten hat, in unendlich viel Arbeit, Mühe, Schweiß, mit Opfern unerhört, der Mensch sein Reich,, hat sich seinen Raum geschaffen, an dem er die Energien erzeugt und verwaltet, die seine Welt bilden. Hier, nur hier, in diesem Domraum des Menschen, scheint der letzte Ernst und Einsatz, das erste und letzte Opfer des Menschen der industriellen, weltwirtschaftlichen, weltkriegführenden Gesellschaft geleistet zu werden.

Es stellt sich also die Frage — erhoben nicht von uns, sondern von der nächsten und fernsten Umgebung des alten Domes — die an ihn herandrängt, ihn in Frage stellt mit jedem Pulsschlag unseres Lebens und ihrer Kräfte: inwieweit, inwiefern, in welcher Form kann der alte Dom konkurrieren, sich messen mit den neuen Domen der Zeit, die, trotz Krieg und Rede, mag ihr Bau auch manche Risse und Sprünge zeigen, feststehen im Innen- und Außenraum des Menschen?

Es tut gut, sich vor Augen zu stellen, was ein Dom einst war und was er heute ist. Die Nüchternheit im Gestern und in der Vergangenheit mag uns helfen, Kraft zu gewinnen für jene Nüchternheit, die wir heute und für das Morgen brauchen. Nichts Nüchterneres, Ernsteres aber als ein mittelalterlicher Dombau. Im Streit, im erbitterten Ringen oft, zwischen dem bischöflichen Stadtherrn und dem Patri- Z’at, zwischen allen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Mächten der Stunde, wird, in einem Bauprozeß, der sich durch Krieg und Bürgerkrieg, Feuersbrunst und Hungersnot, Pest und Wirtschaftskrise oft über Jahrhunderte erstreckt, der Dom gebaut. Sehr oft, fast immer bleibt er unvollendet. Dieser Dom ist, vom Welthaften her gesehen, ein hochpolitisches Machtzeichen für die Größe und das Gewicht einer freien Reichsstadt, eines Königtums, eines geistlichen Fürsten und, immer wieder, eben einer stolzen, nach wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit strebenden Bürgerschaft. All das ist den Bauherrn, den Baumeistern, Bauhandwerkern und Künstlern voll bewußt. Keinen Augenblick verlieren sie ihre „Interessen“ aus dem Auge. Keinen Augenblick aber verlieren sie auch das Wissen um das, was dieser Dom von Gott her ist. Nüchtern und groß sagt es die Liturgie: er ist Abbild des himmlischen Jerusalems, Zeichen des Reiches Gottes auf Erden. Nicht als Feerie, als sentimentalisch-romantischer Traum, der Sehnsucht und dem Gefühl geweiht, oder gar der „Stimmung“, sondern: Rechtszeichen, vollgültiges Rechtszeichen der Macht, der Gerechtigkeit, der Gnade und Freiheit Gottes. Der Dom ist der Raum Gottes auf Erden. In einem ganz präzisen, harten, starken Sinn: mag draußen der Fürst dieser Welt umgehen, in Fehde, Krieg und Zwist, hier herrscht Gott, Als Lehrer, Priester, Richter, König. Hier leben und wirken die Gotteshelden, seine Heiligen. Hier scharen sich die Toten, um auf die Gnade und Freiheit des letzten Urteils zu warten. Hier sammeln sich die Lebenden, um bereits hier, auf Erden, aller Kräfte des himmlischen Reichs teilhaftig zu werden. In der Kraft- waltung der Sakramente: in Reue, Buße, Abendmahl, Opfer, Predigt; Erziehung also Belehrung, Umformung, Erbauung. Erbauung, das ist es: als Kraft- zentrale der göttlichen Kräfte wird im Dom, im Raum Gottes, der Mensch erbaut; umgebaut; erneuert. Und verläßt, ein neuer Mann, den alten Raum. Seht, oft dauert es sehr lange, bis es zu dieser Erbauung kommt; der Mensch hat, damals wie heute, sehr viel „anderes“ zu tun. Der Dom aber wartet; er kann warten. In ihm ist, wie in seinem Herrn, eine in der Zeit unendliche Geduld.

Und nun haben wir in einer unheimlich kurzen Zeit den Dom wiederhergestellt. Am schnellen Wiederaufbau großer Komplexe in deutschen Ruinenstädten würde es manchem Sehfähigen klar: die rasante technische Rekonstruktion hat oft etwas Unheimliches an sich, sie ähnelt dem Werk der Zerstörung. Wie soll nun ein Dom, den Jahrhunderte gebaut und erbetet haben, in wenigen Jahren Wiedererstehen?

Es ist also Zeit, nun, nach der äußeren Wiederherstellung, an den D o m b a u zu denken. Viele Predigten, in München, Wien und andernorts (überall waren ja Dome dem Menschen zum Opfer gefallen), haben es 1945 aufgezeigt, etwas, was in unserer kurzatmigen Zeit viele schon vergessen wollen: unsere Dome waren lange bereits, ehe die Bomben ein äußeres Zerstörungswerk setzten, als sichtbarstes Zeichen, innerlich aufgegeben, preisgegeben, verlassen, verraten worden. Nicht von fernen Fliegern, sondern von uns. Von uns Christen. Wenn wir also heute an den Dombau gehen wollen, dann müssen wir die Sprache verstehen, die in großer Nüchternheit und Geduld, aber auch in drängendem Emst der technisch-wiederhergestellte Dom zu uns spricht.

Der Dom aber sagt: Ihr werdet mich morgen nicht halten können, wenn ihr mich heute nicht bezeugt. Ich kann mich, als einziger Raum Gottes auf Erden, nicht halten, wenn ihr eure ganzen Kräfte, euren Lebensernst, eure Opferwillen, eure Planung und Energie, die Impulse eures Strebens und Schaffens immer wieder in anderen Räumen ausgießt. Die gegen mich sind. Nicht ich bin gegen sie: gegen die Fabriken und Kontore, die Betriebe und Geschäfte, die Stätten der Arbeit, Kunst und Wissenschaft. Keineswegs. Wie sollte ich auch gegen sie sein? Sind sie nicht alle meine Kinder? Haben sie nicht alle bei mir gelernt, von mir genommen? Gab ich ihnen nicht das Wissen um Maß und Zahl, stärkte und heiligte die ordnende Kraft der Vernunft, reinigte das Gefühl, erzog den planenden Mut, das Können, die Arbeit und Weisheit, den Sinn für Ordnung, Schönheit, für Verantwortung der Macht, in meinem Werk?

Nun aber leben sie ihr eigenes Leben. Und sind eben dabei, euch restlos zu ver- •sklaven in Bürokratien, Militärzucht- anrtalten, Lagern. Weil ihr sie nicht beherrschen, weil ihr Menschen, ihr Christen, sie nicht ordnet und nicht verantwortet. Warum aber das alles? Weil ihr nicht mehr ernstlich genug gesonnen seid, euch im Raum Gottes die Kraft zu holen, die Räume des Menschen zu gestalten.

Wer diese Sprache des Doms hört, begreift seine Wiederherstellung als ernstmahnendes Vorzeichen des österreichischen Katholikentags im Herbst 1952. „Freiheit und Würde des Menschen ist seine Parole. Wir werden alle zuschanden werden, wenn wir sie nur als eine Parole begreifen. Als eine Forderung etwa an andere; im weltpolitischen Gefecht der Zeit; als eine Kampfansage in einem innenpolitischen Kulturkampf; als eine Protestaktion religiös- politischer Parteiung; als eine Proklamation von Thesen, die keiner von uns ganz tragen, ganz erfüllen, ganz verantworten kann. Kein Christ, kein Katholik, der den Dom wehrlos in Trümmern sinken sah, und nun Wiedererstehen sieht, in der Hilfe und Mitarbeit zahlloser Nichtchristen, Halbchristen, Gegenchristen, denkt heute an so eine Flucht in die Veräußerlichung. Die Verantwortung für den Dom liegt also bei uns.

„Freiheit und Würde des Menschen“ heißt also im Angesicht des wieder- hergestelllen Domes des hl. Stephan zu Wien, im Jahre des Herrn 1952: schaffen wir menschliche Räume, in denen der Mensch in Freiheit und Würde leben kann! — Wer heute, unter vier Augen, mit einem im Berufsleben tätigen Christen spricht, erfährt zu jeder Stunde, in der er es erfahren will: ich kann als Arbeiter, Geschäftsmann, Familienvater, Beamter nicht ganz als Christ leben — das ist ganz ausgeschlossen; ich gehe wirtschaftlich zugrunde, wenn ich mich nicht aller Praktiken meiner Konkurrenten bediene; ich muß mitlügen, mit- stpßen, mitdrängen, mittreiben. Ich kann mir auch,nicht mehr als ein, zwei Kinder leisten in dieser sterbenden Stadt Wien; ich kann es mir auch nicht leisten, objektiv, zumindest objektiver zu sein gegen meine Gegner; sonst gehe ich unter, sonst wįrd mir die Stellung entzogen beziehungsweise ich bekomme überhaupt keine. Ich kann nicht wirklich Christ sein, weil nirgends ein Raum ist, der eine Existenz als Christ, in der Freiheit und Würde des Christenmenschen zuläßt. Da stellt sich also das Grundproblem im Angesicht des wiederhergestellten Domes, im Angesicht der immer noch mehr zerbröckelnden „Dome in Stadt und Land, der Familien, Einzelexistenzen, der scheiternden Jugend, der von Zerrüttung bedrohten Bauernhäuser; wie bauen wir hier Dome, wie schaffen wir Räume, in denen der Mensch leben kann im Gehorsam gegen die Gebote Gottes und die Gesetze der Kirche — als einzige Ge- währsmächte der Menschenrechte, Räume, in denen der schwache Einzelne, die schwache Familie, der schwache Stand nicht uberfordert werden; so daß sie, mutlos die schöne Predigt verlassen müssen, nach den Festen und Feiern der Dom- wedhej und wehrlos hinaustreten müssen auf die Straße, ohne Aussicht, je in ihrem Leben einen eigenen Dom bauen und bewohnen zu können: einen Raum Gottes auf Erden, eine Heimstätte des Menschen in seinem harten Lebenskampf.

Wie realisiert also der Christ Freiheit und Menschenwürde in seinem Leben, wie kann er jene einzigen Dome bauen, die der andere wirklich ernst nimmt, so blutig ernst nimmt, wie seinen eigenen Lebensraum, in dem er herzlich wenig von Gott, von Freiheit und Würde zu sehen, zu spüren bekommt? Das ist die Existenzfrage des österreichischen Katholiken, des Christen und aller seiner Dome heule, eine Frage, eng verknüpft mit der Existenz einer Welt des Menschen überhaupt: Morgen werden Dome sein, wenn wir sie heute im Innern zu bauen beginnen; dieses Bauen verlangt sehr viel Einsicht, Kraft, Geduld; verlangt mehr Sinn für Solidarität, als gerade Christen oft zu geben bereit sind; verlangt mehr Vertiefung in die Gründe unseres Glaubens, als unser oberflächlicher Betrieb mit seinem Terminkalender gestatten will.

Schon aber ist ein Zeichen gesetzt, das zum Beginn der neuen Arbeit mahnt: der Dom zu Wien, der nun auf seinen inneren Wiederaufbau wartet.

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