6863278-1977_45_04.jpg
Digital In Arbeit

Utopie Gesundheit: Wird in Graz Umdenk-Prozeß ausgelöst?

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn vor Generationen Kinder einen Arzt gemalt haben, dann war das meist eine Vaterfigur. Heute aber können Kinder den Arzt ebensogut als Marsmenschen oder als Frankenstein zeichnen ..Eine provokante Bemerkung - von Ivan Illich, dem „Propheten von Cuernavaca“, der auszog, das Gesundheitssystem der Industrieländer leidenschaftlich wie grundsätzlich in Frage zu stellen. Und das ist wichtig angesichts der tagesaktuellen, daher oft verkürzten Diskussion über die kranken Krankenhäuser oder die anzuhebenden Rezeptgebühren.

Diese grundsätzliche Diskussion begann am Mittwoch in Graz, in der Steirischen Akademie, dem wissenschaftlichen Beitrag des Kulturreferates der Steiermärkischen Landesregierung zum „Steirischen Herbst 77“. Das Medizin-System macht krank, behauptet Ivan Illich, der sich im Anschluß an Viktor E. Frankls „Psychiatrischem Gutachten über die Gegenwart“ seinem „sozialmedizinischen Kontrapunkt“, dem Heidelberger Physiologen und Epidemiologen Hans Schaefer stellen wird.

Feststehen dürfte wohl als erste „Diagnose“ der Steirischen Akademie: Der Kosteninfarkt, die Großkrankenhäuser, die Medika- mentenschwemme, aber auch die Zunahme krankmachender Faktoren in der Arbeitswelt, im Wohnbau, in der Disharmonie menschlicher Beziehungen bedrohen nicht nur die Gesundheit des Menschen, sondern auch seine Chancen zum Gesundsein-Können und Gesundsein-Wollen, zur „Eigenverantwortung“ für Gesundheit.

Denn trotz all der Glanzlichter des naturwissenschaftlich-medizinischen Fortschritts muß beispielsweise zu denken geben, daß nur etwa ein Fünftel aller Patienten überhaupt in der Lage ist, mit dem Arzt zu „reden“, zu sprechen, seine Sprache zu verstehen. Für die große Mehrheit existiert eine Mauer, eine tiefe Kluft, vordergründig überbrückt durch die „verordnete“ Medizin, durch das Medikament, mit dem freundlichen Hinweis: „Wenn vom Arzt nicht anders verordnet…“.

Deshalb geht es um ein neues Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Dafür engagiert sich seit Jahren der hessische Landarzt Paul Lüth, der in der Steirischen Akademie auf die Frage „Mündig für Heilung?“ eingehen wird. Die Misere der Medizin scheint aber mehr und mehr die Misere der Menschen zu werden, die keine Verantwortung mehr kennen, weder für sich, noch für andere, meint Hans Schaefer. Das „Unwohlsein“ als Alarmsignal für die Tatsache, daß mehr als die Hälfte aller Leiden psychisch und gesellschaftlich bedingt sind.

Wie wird der Mensch mit der Zunahme der geistig-psychischen An-

forderungen, die mehr und mehr an die Stelle der körperlichen Belastungen treten, fertig in der Arbeitswelt? Das mag in der Steirischen Akademie der Frankfurter Medizinsoziologe Hans-Ulrich Deppe erörtern. Konkreter auf die Notwendigkeit politischer Reformen wird der Wiener Tiefenpsychologe Hans Strotzka eingehen, der für Ökologie, Dezentralisierung, Mit bestimmung und Aufklärung über „identitätbildende Erziehung“ ein- tritt.

Machbare Vorschläge zum Kapitel „Wohnbau: Prävention für Gesundheit“ stammen vom Grazer Hochschulassistenten Hans-Jörg Tschom, der sich auf diesem Sektor international einen Namen gemacht hat. Nur hierzulande will man seine unter dem Ge-

sichtspunkt der Gesundheit skizzierte Wohnbau-Architektur genausowenig wahmehmen wie seine konkreten Vorschläge zur- kostensparenden, dafür aber menschennäheren - Dezentralisierung des Gesundheitswesens.

Für Provokation auf diesem Sektor wird in der Steirischen Akademie der Krankenhaussoziologe Johann-Jürgen Rohde aus Hannover sorgen. „Der gute Patient schluckt, was ihm zu schlucken gegeben wird. Er gibt von sich, was er auf Anweisung von sich geben soll. Lacht, wenn seine Umgebung meint, daß er etwas zu lachen hat. Weint und ist traurig nur dann, wenn ihm ein Grund für solche Emotionen zugebilligt wird. Er reißt sich zusammen, zeigt Verständigkeit, ,Reife* und doch zugleich auch wieder Anhänglichkeit, das grenzenlose ,Urvertrauen in die .weißen Götter*, deren Sprache er kaum versteht. Er antwortet ehrlich, rückhaltlos, umfassend, wenn er gefragt ist. Und er sagt nichts, wenn er nicht gefragt ist.“

Zum Problem „Politik für Gesundheit - und ihre Grenzen“ wird es in der Steirischen Akademie Beispiele geben: aus der Schweiz (Gesundheitsamtsdirektor Ulrich Frey) und aus der Sicht der Weltgesundheitsorganisation (Regio- naldirektorLeo Arthur Kaprio). Etwas Aufklärung über eine mögliche Trendwende auch der österreichischen Gesundheitspolitik ist in einer Forumsdiskussion mit den Gesund- heits- und Sozialsprechern des Parlaments zu erhoffen. Beeinflußt wird diese Diskussion vielleicht durche einen weltweit spürbaren Umdenk-Prozeß: „Selbsthilfe“, aber auch Neubesinnung auf die Erfahrung von Schmerz, Krankheit und Tod als Alternativen gegenüber der Vertrauenskrise in der Medizin. Ivan Illich wird mit den Referenten der Steirischen Akademie darüber ein Forum eröffnen, bevor die gebürtige Schweizerin und in den USA wirkende Elisabeth Kuebler-Ross in Graz den Schlußpunkt setzen wird: Die Grenzen der Medizin - das Leben mit dem Tod.

Es wird sich in diesen vier Tagen her- ausstellen, ob die Steirische Akademie einen Umdenk-Prozeß in Sachen Gesundheit auszulösen vermag. Kulturlandesrat und Initiator Prof. Kurt Jungwirth, läßt darüber keinen Zweifel offen: die Referenten treffen vermutlich auf ein kreatives Publikum.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung