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Digital In Arbeit

Vorsicht, Zitat!

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Es scheint, als ob Worte, denen Flügel wachsen, noch einmal zu flattern begännen und dann für immer erstarrten. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan“, sagt man, aber man müßte richtig sagen: „seine Arbeit“. In dieser Form ist das geflügelte Wort erstarrt, nicht anders als dasjenige von den „Tagen von Aranjuez“, die allgemeiner Aussage «ach „vorüber“ sind, während sie für ihren Schöpfer einfach „zu Ende“ waren. Wer hätte das gedacht?

Ein merkwürdiger und in seiner Art seltener Vorgang ist bei der Morgenluft geschehen, die jemand wittert. Die sanfte Kühle, das Heraufdämmern des Tages hat in unserer Vorstellung über die Gespenstigkeit der dichterischen Anschauung gesiegt. Während der Geist des Königs in Hamlet den Morgen scheut: „Doch still! Mich dünkt, ich wittre Morgenluft“, und auch bei Bürgers Leonore die Warnung vor der Morgenluft ausschlaggebend ist — „Rapp\ Rapp', ich wittre Morgenluft“ -, gebrauchen wir die Redewendung im entgegengesetzten Sinn. Wer Morgenluft wittert, das ist j emand, der sich unreelle Hoffnungen macht. Das Zitat wurde also nicht sprachlich, aber dem Gehalt nach verändert.

Ein ähnlicher Fall mit einem zwar nicht dichterischen, sondern. banalen Wort hat sich in der Umgangssprache ereignet. Immer wieder wird von dem Bumerang gesprochen, der auf denjenigen zurückfällt, der ihn ausgesandt hat. Gewiß, das tut er auch, aber er soll es tun: er kehrt nämlich in die Hand des Werfers zurück, um neuerlich verwendet zu werden. Der heutige Sprachgebrauch aber tut so, als wäre das Zurückkehren des Bumerangs ein Pech für den Werfer, gleichsam, als sei der Schuß nach hinten losgegangen.

Ein Fall irriger Zitierung aber ist geradezu klassisch. Wie oft wohl ruft der Alltagsmensch aus: „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah ...“. Will er nun nach dem Zitatenlexikon greifen, um festzustellen, wo diese Sentenz vorkommt, so ist das ganze Zitat nicht da. Eine Umfrage unter gelehrten und wissenden Leuten, nicht zuletzt unter Journalisten und Philologen, hat dabei merkwürdige Ergebnisse gezeitigt: man war im Zweifel, ob der Satz von Goethe stamme oder nicht vielleicht doch wegen seiner “Geläufigkeit von, Schiller; einer tippte auf Rückert, einer meinte, in „Egmont“ müsse er zu finden sein. Und alle Zitatenlexika versagten. Sollte es sich um ein Volkssprichwort handeln? Auch dann wäre es wohl im „Büchmann“ zu finden gewesen. „Im .Faust' steht's nicht“, versicherte ein Goethekenner, und damit hatte er recht. Dieses „Warum in die Ferne schweifen“ steht nämlich nirgends, es ist auch kein Sprichwort — es ist der typische Fall eines geflügelten Wortes, dem die Flügel über sich selbst hinausgeholfen haben.

Möge jeder Leser jetzt zuerst einmal an sich die Frage stellen, ob er weiß, woher es stammt. Der Unterzeichnete gibt errötend zu, daß er seiner Sache gar nicht sicher war. Und wenn diese Gewissensforschung vorbei ist, dann soll es damit genug sein und wir wollen dem wahren Ursprung des Wortes nachgehen. Man braucht im Zitatenlexikon bloß an der rechten Stelle nachzusehen. Dort steht: Goethe, Lieder: „Willst du immer weiter schweifen, sieh, das Gute liegt so nah ...“ So nah' liegt es, daß man's nicht unter „Warum“ und nicht unter „Ferne“ finden kann. Mit erhobenem Gelehrtenfinger bemerkt Büchmann dazu: „Zumeist falsch zitiert.“ Ja freilich.

Es mag herzlich empfohlen werden, jenön berühmten Zitaterichen, die sich mit Vorliebe und voll Gedankenlosigkeit mit fremden geflügelten Federn schmükken, einmal ganz leise die Frage zu stellen, woher dieses Geflügel wohl stamme oder wie der richtige Wortlaut eines der erwähnten Beispiele sei. Sie werden sich hüten, weiter ähnliche Kost auf dem Zitatenteller daherzubringen. Das Rezept ist außergewöhnlich wirksam, wenn auch die Kur mit den wahren Zitatsachen nicht gerade wohltuend empfunden wird. Aber das soll sie ja auch nicht. Es kann niemals schaden, wenn man den Menschen beibringt, den Worten, die sie gebrauchen, etwas näher ins Auge zu sehen. „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück“, sagt Karl Kraus.

Man wird vorsichtig, wenn man sich den Mund an einem zu heißen Geflügel-Wort verbrannt hat, man wird nachdenklich. Und vielleicht lernt man auch eine gewisse Reserve im Alltagsgespräch. Oder finden Sie es wirklich schön, wenn ein erwachsener Mensch einem winzigen Pudel, der freudig auf ihn zuspringt, die geistreichen Worte entgegenschleudert: „Bist du wahnsinnig, Fifi?“ Oder ein anderer, der Hunger verspürt, bemerkt: „Kein Wunder, habe nicht gefrühstückt.“ Ein Wunder, beziehungsweise kein Wunder? Wo fängt ein Wunder wirklich an?

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