Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Was unser System verändern könnte
Mit Leidenschaft hat sich der Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt gegen jede Vermischung von Politik und Metaphysik gewandt: „Die geistige Dimension des Menschen hat nichts mit Politik zu tun … Die politische Domäne liegt nicht im Menschheitsinneren, sondern an der Menschheitsoberfläche. Mit deren Wirbeln und Protuberanzen hat es die Politik zu tun … “
Wenn wir Dürrenmatt richtig verstehen, hält er — der Moralist — es für eine Illusion, daß der Bereich der gesellschaftlichen Macht sich nach sittlichen Grundsätzen ordne, daß Politik sich „nach dem Menschen“ richte; er will nicht bestreiten, daß es so sein müßte, daß ein sittliches Ideal auch für die öffentlichen Dinge zu gelten habe — aber weil die wirklichen Existenz-Fragen des Menschen im „Spiegel der Macht“ kaum zum Tragen kommen, werde es nie und nimmer gelingen.
Der politische Mensch ist nach Dürrenmatt ein Anpasser und Opportunist, der, wenn es sein muß, der bösesten Verbrechen fähig ist. Im berühmten „Besuch der alten Dame“ hat der Dichter die
sen traurigen Tatbestand unnachahmlich geschildert, im Stadtrat von Güllen jenes Beispiel politischer Korruption gegeben, dem wir täglich begegnen.
In der Erzählung „Der Tunnel“ stellt Dürrenmatt die Frage, die wir nun alle stellen möchten: „Was sollen wir tun?“ Seine Antwort: „Nichts. Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.“
Nun tut Dürrenmatt selber wahrhaftig nicht nichts, sondern er schreibt seine Stücke und Erzählungen und die haben doch wohl den Sinn, uns von unserem falschen Tun und Handeln abzubringen. Er vertritt die klassische christliche Haltung: nur der einzelne, die Person, kann sich be
kehren, und erst dieses Person gewordene und im Kampf mit Tod und Lüge bewährte Ich ist imstande, die heillose Welt der Politik zu ändern, zu überwinden — in Gnade und Liebe.
Es ist die Haltung der Mutter Teresa, die sich keinen Deut um Entwicklungspolitik kümmert und von den sozialpolitischen Ursachen der Slums nicht redet — aber den Menschen hilft und damit die Menschen ändert.
Das Systemverändern muß vom Menschen, von der Person ausgehen. Wenn derzeit die Zahl der Arbeitslosen in Westdeutschland die Million-Grenze überschritten hat, dann ist dies ein Versagen von Menschen, nicht ein anonymes Schicksal, das uns von
abstrakten Markt-Gesetzen diktiert wäre. Viele von uns leben über ihre Verhältnisse (das heißt: sie verdienen zu viel für ihre Arbeit), während andere vom Kuchen des Volkseinkommens nur das Almosen der Arbeitslosenhilfe bekommen.
Aber natürlich ist es politisch nicht erreichbar, daß diejenigen, die Arbeit und Einkommen haben, freiwillig von beidem (auch von der Arbeit) jenen abgeben, die ohne eigene Schuld arbeitslos sind. Das wäre, wie Dürrenmatt richtig sagt, eine Utopie.
Oder, anders ausgedrückt: nur durch Gnade und in der Liebe möglich. Die wahren System- Veränderer sind diese beiden.
Aus: „Christ in der Gegenwart“
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!