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Durrenmatt und das Drama

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KOMÖDIEN I. 8. Auflage. 35 Seiten. Preis 18.80 sFr. — KOMÖDIEN II UND FRÜHE STÜCKE. 429 Seiten. Preis 19.80 sFr. Von Friedrich Dürrenmatt. — HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS. Eine Komödie. Von Friedrich Durrenmatt. 88 Seiten. Preis 7.80 sFr. — FRIEDRICH DÜRRENMATT. Stationen seines Werkes. Von Elisabeth Brock-S u 1 z e r. 371 Seiten. Preis 14.80 sFr. Alle im Verlag Die Arche, Zürich, 1964. — DER UNBEQUEME DÜRRENMATT. Mit Beiträgen von Gottfried B e n n, Elisabeth Brock-Sul-i e r, Fritz Biiri, Reinhold Grimm, Hans Mayer, Werner O b e r 1 e. 136 Seiten. Preis 13.80 sFr. — SINN ODER UNSINN? Das Groteske im modernen Drama bei Adamov, Bek-kett. Block, Brecht, Chlarelli, Durrenmatt, Genet, Grass, Ionesco, Pinter, Valentin u. a. Mit Beiträgen von Martin E s s 1 i n, Reinhold Grimm, Hans Bernd Härder und Klaus Völker. Band 3 und 4 der Buchreihe „Theater unserer Zeit“. Verlag Basilius Presse, Basel und Stuttgart. 170 Seiten. Preis 13.80 sFr. — MODERNES SCHWEIZER THEATER. Einakter und Szenen. Herausgegeben von Hans Rudolf H i 11 y und Max Schmid. Clou-Verlag, Egnach, 1964. 344 Seiten.

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KOMÖDIEN I. 8. Auflage. 35 Seiten. Preis 18.80 sFr. — KOMÖDIEN II UND FRÜHE STÜCKE. 429 Seiten. Preis 19.80 sFr. Von Friedrich Dürrenmatt. — HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS. Eine Komödie. Von Friedrich Durrenmatt. 88 Seiten. Preis 7.80 sFr. — FRIEDRICH DÜRRENMATT. Stationen seines Werkes. Von Elisabeth Brock-S u 1 z e r. 371 Seiten. Preis 14.80 sFr. Alle im Verlag Die Arche, Zürich, 1964. — DER UNBEQUEME DÜRRENMATT. Mit Beiträgen von Gottfried B e n n, Elisabeth Brock-Sul-i e r, Fritz Biiri, Reinhold Grimm, Hans Mayer, Werner O b e r 1 e. 136 Seiten. Preis 13.80 sFr. — SINN ODER UNSINN? Das Groteske im modernen Drama bei Adamov, Bek-kett. Block, Brecht, Chlarelli, Durrenmatt, Genet, Grass, Ionesco, Pinter, Valentin u. a. Mit Beiträgen von Martin E s s 1 i n, Reinhold Grimm, Hans Bernd Härder und Klaus Völker. Band 3 und 4 der Buchreihe „Theater unserer Zeit“. Verlag Basilius Presse, Basel und Stuttgart. 170 Seiten. Preis 13.80 sFr. — MODERNES SCHWEIZER THEATER. Einakter und Szenen. Herausgegeben von Hans Rudolf H i 11 y und Max Schmid. Clou-Verlag, Egnach, 1964. 344 Seiten.

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Von den beiden führenden Dramatikern des Schweizer und des deutschsprachigen Theaters überhaupt dürfte Friedrich Dürrenmatt (Jahrgang 1921) der ursprünglichere, vitalere Theaterdichter sein. Der um zehn Jahre ältere Max Frisch hat eher den Rang eines bedeutenden Erzählers zu beanspruchen, der in den von ihm vorliegenden drei Romanen (Stiller, Homo Faber, Gantenbein) an das hochbrisante und äußerst zeitgemäße Thema der Ich-Flucht, des Überdruaes an einem überforderten Ich ohne Sinn und Seinsgewißheit rührt. Die namhafte Schweizer Theaterkritikerin und Essayistin Elisabeth Brock-Sulzer hat in ihrem dem Werk ihres Landsmannes gewidmeten Buch („Stationen seines Werkes“) die im Verlag der Arche vorbildlich edierten Dramen, Hörspiele und Prosawerke Dürrenmatts eindringlich und erhellend kommentiert. Sie stellt fest, daß das Werk Dürrenmatts „vom allgemein christlichen Geist unauslöschlich geprägt worden“ ist. „Kein Buch hat ihn stärker beeinflußt als die Bibel, kein Gedanke mehr umgetrieben als das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade.“ Die letzten Worte des auf das Rad gespannten Knipperdolinks in dem Wiedertäuferdrama „Es steht geschrieben“ (1946) lauten: „Die Tiefe meiner Verzweiflung ist nur ein Gleichnis Deiner Gerechtigkeit, und wie in einer Schale liegt mein Leib in diesem Rad, welche Du jetzt mit Deiner Gnade bis zum Rande füllst!“ In den zauberhaften Stück „Ein Engel kommt nach Babylon“ (1953) bekennt der Engel: „Alles, was ich fand auf diesem Stern, war Gnade und nichts anderes: Ein unwirkliches Wunder in den erhabenen Wüsteneien der Gestirne“, ein Wunder, das die Menschen freilich nicht wahrnehmen. In der Tragikomödie „Besuch der alten Dame“ (1955) bringt der Besuch allerdings nicht die Gnade, sondern das Gericht über die vorangegangene Verkennung und Verhöhnung der Gnade. In ihren Heimatort zurückgekehrt, will sich die alte Dame die Gerechtigkeit für eine Milliarde erkaufen. Aber „Reichtum hat nur dann Sinn, wenn aus ihm Reichtum an Gnade entsteht: Begnadet aber wird nur, wer nach der Gnade hungert“, heißt es in der Ansprache des Lehrers an die Gemeindeversammlung. In der Komödie „Die Physiker“ (1961) erlebt der Kriminalinspektor das Glück, plötzlich nicht länger Gerechtigkeit üben zu müssen, sondern Gnade ergehen lassen zu dürfen, nachdem die drei verbrecherischen und sich verrückt stellenden Physiker als „Narren“ nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. In Dürrenmatts vorläufig letztem Bühnenwerk, der viel umstrittenen Komödie „Herkules und der Stall des Augias“ (1963), erklärt Augias am Ende seinem Sohne: „Es ist eine schwere Zeit, in der man so wenig für die Welt zu tun vermag, aber dieses Wenige sollen wir wenigstens tun: Das Eigene. Die Gnade, daß unsere Welt sich erhellt, kannst du nicht erzwingen, doch die Voraussetzung kannst du schaffen, daß die Gnade — wenn sie kommt — in dir einen reinen Spiegel findet für ihr Licht.“

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, dann das Motiv von Gerechtigkeit und Gnade läßt sich in allen Werken Dürrenmatts, auch in den erzählenden, aufzeigen. Mit Recht weist Fritz Buri in seinem ausführlichen Betrag zum Sammelband „Der unbequeme Dürrenmatt“ darauf hin, daß in Dürrenmatts Stük-ken letztlich alles um ein und dasselbe Thema kreist (ohne daß sie jedoch Thesenstücke wären). Dürrenmatts Welt ist 'eine Welt der Gnade und ihrer Verkehrungen. Frau Brock-Sulzer schreibt in ihren „Stationen“ über den oben zitierten Schluß aus der von Kritik wie Publikum so verkannten Komödie: „Die Weisheit des Augias, diese langsame Weisheit des unheldischen Politikers, der in Jahrhunderten denkt, mit dem Möglichen rechnet, sie wird verraten von seinen Kindern, die dem Helden nachlaufen ... Augias bleibt einsam zurück mit seiner Einsicht, seiner Unzufriedenheit, die weitergegeben werden muß, damit die Dinge doch mit der Zeit geändert werden können. Ein offenes Bekenntnis ist dieser Schluß... in gewissem Sinn wirklich die Quintessenz von Dürrenmatts Denken. Eine zugleich staatsbürgerliche und religiöse Gesinnung spricht sich darin aus, etwas sehr schweizerisch Nüchternes, eine aufbauende Unzufriedenheit.“

Die Welt, die Dürrenmatt in seinem faszinierenden und oft provozierenden Werk hinstellt, ist eine verrottete Welt, ganz im Gegensatz zu dem Wunder der Erde, deren Schönheit über alle Maßen der Engel in Babylon kündet. Aber die Menschen leben in einer Welt eigener Mache mit allem menschlichen Getue und Gerede, und so ist die irdische Ordnung weder ein Abbild der umfassenden Ordnung noch offenbart sich die Schönheit des Ganzen in der Schönheit des einzelnen (Werner Oberle in „Der unbequeme Dürrenmatt“). Im Versuch, unserer höchst problematischen, absurden und grotesken Wirklichkeit den ihr gemäßen Kunstausdruck abzuringen, wählte Dürrenmatt alsbald die Komödie als die dramatische Kunstform, die unserer Zeit entspricht. Der Mensch von heute verdiene die Tragödie nicht mehr; ihm komme nur noch die Komödie bei. „Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe ... Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genauso wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“ „Die Tragödie ... setzte eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie... eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige.' („Theaterprobleme.“)

Das Groteske als Grundstruktur prägt bei Dürrenmatt das gesamte Werk. Er bekennt sich zur Groteske als Spiegelbild einer grotesken Weilt. (Reinhold Grimm in „Der unbequeme Dürrenmatt“. Klaus Völker ir „Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama“.) Groteskes Theater will den Irrsinn, der geschieht, darstellen. Die Welt ist veränderbar, Dabei ist Dürrenmatt weit davon entfernt, das Absurde zu verherrlichen, ein funktionsloses oder gar ein absurdes Theater im Sinne Ionesco* zu fordern, denn die Komödie als Zeittheater „ist unbequem, aber nötig. Die Tyrannen dieses Planeter werden durch die Werke der Dichte] nicht gerührt, bei ihren Klageliedern gähnen sie, ihre Heldengesänge halten sie für alberne Märchen, bei ihren religiösen Dichtungen schlafen sie ein, nur eines fürchten sie: ihren Spott.“ (Hans Mayer zitiert diese Sätze Dürrenmatts in seiner Untersuchung über das Verhältnis Dürrenmatts zu Brecht in „Der unbequeme Dürrenmatt“.)

„Ein Stück ist keine Illustration zu einer These. Theater ist eine Welt von Menschen. Ich gehe vom Komödiantischen aus, vom Einfall, um etwas ganz Unkomödiantisches zu tun: den Menschen darzustellen.“ Konfrontiert man diese drei willkürlich ausgewählten und aneinandergereihten Sätze Dürrenmatts mit den Einaktern und Szenen in dem Band „Modernes Schweizer Theater“, dann begreift man, wie schwierig es ist, Schweizer Dramatiker „nach Frisch und Dürrenmatt“ zu sein. Offenheit als Zeiterfahrung und als künstlerische Erfahrung sei — nach dem klugen und sympathischen Vorwort von Hans Rudolf Hilty, der selbst mit einem Einakter in dem Band vertreten ist — den jüngeren Dramatikern aufgegeben. Die Schwierigkeit ist: sie dramaturgisch zu realisieren und doch die dramatische Struktur zu bewahren. Das Schwerste: sich selber finden vor den offenen Horizonten und nicht allzu leicht Gebrauch machen von der offen daliegenden Vielfalt des modernen Dramas von Pirandello bis Ionesco oder von Brecht bis Beckett. Gleich für den ersten, in Lausanne uraufgeführten Einakter des Bandes „Der Pilot“ von Walter M. Diggelmann gilt Dürrenmatts Satz: „Die Atombombe kann man nicht mehr darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst...“ So manches bleibt intellektuell dürr und erklügelt, anderes interessiert, fesselt schon in den Kurzproben (zum Beispiel Herbert Meier, Otto F. Walter). Die Herausgabe des Bandes ist zu begrüßen, und man wünschte ihm so viel Anklang, damit der in Aussicht gestellte zweite Band mit Werken von neueren Schweizer Dramatikern französischer, italienischer und rätoromanischer Sprache folgen kann.

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