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Der fromme Agnostiker

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Was als Würdigung zum 70. Geburtstag des großen Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt geplant war, wird nun nach seinem überraschenden Tod in der Nacht zum 15. Dezember zum Nachruf:

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Was als Würdigung zum 70. Geburtstag des großen Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt geplant war, wird nun nach seinem überraschenden Tod in der Nacht zum 15. Dezember zum Nachruf:

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Der am 5. Jänner 1921 im Kanton Bern geborene Friedrich Dürrenmatt hat einmal festgestellt, „daß es einen vernünftigen und einen unvernünftigen Glauben gibt". Dieser Vernunftriese zweifelte - ein echter Künstler an allem, glaubt aber innig an seinen Zweifel. Als Pastorensohn erfüllte er den Berufswunsch des Vaters nicht, wurde Schriftsteller, riet sogar seinem Sohn von der Priesterlaufbahn ab,

und dieser folgte ihm auch nicht: Der Pastorenenkel ist wieder Priester geworden. Dürrenmatt dürfte der am häufigsten preisgekrön-te deutschsprachige Dichter sein. Er hat dank seiner Welterfolge als Dramatiker so viele Schillerpreise bekommen (die da und dort vergeben werden), daß er bei einer Dankrede ironisch betonte, sie falle ihm leicht, weil er schon eine gewisse Übung in den einschlägigen Dankreden habe. 1959 bekam er von seinem Heimatkanton den ersten Schillerpreis, mit der Begründung, Dürrenmatt sei der „nach dem Tode Brechts wohl unbestritten bedeutendste deutschsprachige Dramatiker". Als er im Jahr darauf den Preis der Schweizer Schillerstiftung entgegennahm, gestand er offen, er hätte noch „lieber einen Nestroy-Preis empfangen", weil ihm jede moralische oder lehrhafte Wirkung fern liege.

Begreiflich daher, wenn er einst in einem Rundfunkinterview betonte, daß er trostlos wäre, wenn er in einer Buchhandlung eine Sammlung von Aussprüchen erblickte, die den Titel „Trost bei Dürrenmatt"

hätte. (Anspielung auf die notorische Buchreihe „Trost bei Goethe" und so weiter.)

Dieser einfallsreiche Erfolgsautor wurde nie fertig, schrieb immer wieder um. Zumal wenn er aus einer Geschichte ein Hörspiel (oder umgekehrt) und aus diesem ein Thea -terstück macht, pointiert er völlig neu und verblüfft durch die Novellierung den Kenner der Vorlage. Seine Stücke wurden verfilmt, von Komponisten veropert, und er selbst

gab hinterher einen romanhaft spannenden Essay über die Entste-hungs- und Entwicklungsgeschichte des Sujets zum besten. Die zwei vorliegenden Bände über seine „Stoffe" (siehe Seite 14) heißen vielsagend „Labyrinth" und „Turmbau": Schier atemraubend, wie er unentwegt aus allen drohenden Irrwegen den artistisch richtigen Ausweg suchte, oft nicht fand und bei der Dramatisierung der Fabel vom „Turmbau zu Babel" auf dramatische Weise scheiterte, weil Scheitern in der Unnatur dieses fatalen Themas liegt.

Gern spielte Friedrich Dürrenmatt, immer nachdenklich, Schallplatten oder Schach und kommt dabei den Lösungen eines literarischen Problems auf die Spur. „Der Tod des Sokrates" zum Beispiel ist eine köstlich skurrile Phantasie -

er läßt den Weisen in Syrakus sterben statt in Athen -, doch begegnet man im selben Abschnitt zwei Begegnungen mit Paul Celan.

In Paris ist der Lyriker wie gewohnt „schwermütig, verzweifelt, dumpf, glaubte sich verfolgt", und beim Gegenbesuch in Neuchätel ist er zunächst wieder „traurig, so wie wir ihn von Paris her kannten", doch am letzten Tag ist alles anders: „Wir spielten stundenlang Tischtennis, er war von einer ungeheuren, bärenstarken Vitalität, er spielte meine Frau, meinen Sohn und mich in Grund und Boden. Dann trank er zu einer Hammelkeule eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps", und so ging es weiter, Celan tanzte, sang, und noch bei der Abfahrt „sang, grölte er, wie ein ausgelassener Faun."

Schwerst Depressive durchleben euphorische Perioden, man weiß es, aber wer hat jemals solche Kunde über den späteren Selbstmörder vernommen? Es war vermutlich das mitreißende Erlebnis Dürrenmatt, was die fast unglaubliche Reaktion bei dem Schwermütigen auslöste.

Theaterskandale bei Uraufführungen Dürrenmatts liegen freilich Jahrzehnte zurück; aber wer „glaubt, daß Dürrenmatt zum alten Eisen gehört, dem ist nicht zu helfen", hat Hans Weigel richtig alle bloß Skandalsüchtigen belehrt.

Ein Widerspruchsgeist? Für geistlose „Mitmacher" blieb er freilich auch mit 70 ein Dissident.

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