6949933-1984_08_08.jpg
Digital In Arbeit

Weder Strafe noch Prüfung

Werbung
Werbung
Werbung

Die spontane Reaktion auf das, was dem Menschen widerfährt, auf Unglück und Leid, besteht in der Suche nach Gründen. Da die „äußeren" Vorfälle nicht befriedigen, wird eine tiefere Ursache gesucht. Und wie oft lautet hier die Lösung: „Gott bestraft mich"? Von der Religionspädagogik zwar kritisiert, bleibt diese jahrtausendalte Strategie, die in den biblischen Schriften bezeugt, von Eltern, Priestern und Katecheten weiter tradiert wird, bis heute noch eine der elementarsten Glaubenseinsichten.

Die gängige Theologie formalisiert diese und bringt sie auf eine Kurzformel: entweder ist das Leid eine Strafe für die Sünde des Menschen oder aber eine Erprobung des Gerechten. Was solche theologische Argumentationsfiguren beim leidenden Menschen tatsächlich bewirken, davon kann eigentlich keine religionspädagogische Untersuchung berichten. Harold Kushner, ein jüdischer Rabbi, der jahrelang die Mitglieder seiner Gemeinde von Amts wegen zu trösten hatte, erzählt in dem Buch „Wenn guten Menschen Böses widerfährt", wie er selbst sich mit solchen theologischen Formeln zu plagen hatte, als das Unglück seine eigene Familie traf.

Im Alter von acht Monaten hörte Aaron, der Sohn des Rabbiners, zu wachsen auf. Zwei Jahre später erfuhr man die Diagnose: „Progerie" (schnelles Altern). Damit schien das Familienglück zerstört zu sein. Das Wissen, daß Aaron höchstens zehn bis zwölf Jahre alt würde, und diese Kinderjahre bereits als Greis erleben müßte, erfüllte die Betroffenen mit dem Gefühl tiefster Ungerechtigkeit.

Mit einer entwaffnenden Offenheit berichtet Kushner von seiner Glaubensprobe. Er geht die klassischen Antworten durch, fragt, was sie faktisch bewirken und legt sich vor allem Rechenschaft darüber ab, was er als Rabbi zu den anderen Leidenden gesagt hat. Eines wird dabei immer deutlicher. Erst die Erfahrung des eigenen Leidens eröffnet den Blick auf das Opfer. Schonungslos kritisiert Kushner alle Beschwichtigungsversuche der theo-

logischen Traktate, die sich mehr um die logischen Beweise bemühen als um das Opfer.

Auch die Lösung der Abrahamsgeschichte lehnt er ab. Die rabbinische Tradition hielt daran fest, daß Gott Abraham nur deswegen geprüft hätte, weil er ihn für stark genug hielt. Die Prüfung wäre demnach eine Art Auszeichnung gewesen.

Kann dieser Gedanke einen Betroffenen stärken? „Ich war Vater eines behinderten Kindes" — schreibt Rabbi Kushner - „vierzehn Jahre lang, bis zu seinem Tod. Ich fand keinen Trost in dem Glauben, daß Gott mich auserwählt hat, weil Er bei mir eine besondere geistige Stärke und Kraft vermutete, weil Er wußte, daß ich vielleicht besser als andere dieses Leid ertragen werde. Ich fühlte mich weder .auserwählt', noch konnte ich leichter begreifen, warum Gott behinderte Kinder zur Welt kommen läßt — nur um den Glauben ihrer Eltern zu prüfen."

Wenn es aber nicht Gott ist, der das Leid zuteilt, wenn Zufall und Banalität oft die letzten Ursachen sind für das Unglück und die Schicksalsschläge, wozu dann noch der Glaube an Gott? Wird Gott nicht überflüssig? In seinem Ringen um Gott muß Rabbi Kushner den Glauben an die Allmacht Gottes preisgeben.

Mit den Hinweisen auf die Freiheit des Willens, auf die gegensätzlichen Wünsche, auf Chaos, Zufall und Banalität werden die Ursachen des Leidens angesprochen. Doch diese sind für Rabbi Kushner längst unwichtig. Sein theologisches Weltbild hat sich durch die Erfahrung der Krankheit seines Sohnes entschieden geändert. Sein Glaubensbekenntnis beginnt nun anders: „Ich glaube an Gott. Aber ich glaube nicht in der Weise an ihn wie vor Jahren, als ich heranwuchs oder Theologiestudent war. Ich bin mir der Grenzen Gottes bewußt geworden ..."

Die Erkenntnis und Anerkennung dieser „Grenzen Gottes" führte ihn weder zum Atheismus noch zum Zynismus. Im Gegenteil. Es fällt ihm nun leichter, „einen Gott zu verehren, dem Leiden verhaßt sind, der sie aber nicht verhindern kann, als einen Gott, der Kinder leiden und sterben läßt, aus welchen Gründen auch immer". Obwohl Gott das Leiden nicht verhindern kann, ist ihm der leidende Mensch alles andere als unwichtig. Im Gegensatz zu den Jahrtausendjahrealten Traditionen von der Leidensunfähigkeit Gottes entwickelt Rabbi Kushner eine Spiritualität, die gerade aus dem Glauben an das Mitleiden und Mitgefühl Gottes Kraft und Hoffnung schöpft.

Der Autor ist Assistent für Dogmatik an der Universität Innsbruck.

WENN GUTEN MENSCHEN BÖSES WIDERFAHRT. Von Harold Kushner. Tomus-Verlag, München 1983. 144 Seiten, öS 187,20.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung