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Zeitgeschichte im Zeitroman

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Der Süddeutsche Verlag bringt zwei Romane von Oskar Maria Graf in neuer Ausgabe heraus. Warum auch mit verändertem Titel, ist nicht ganz klar. Jedenfalls ist es verdienstvoll, daß diese literarische Zeitkritik wieder zugänglich ist.

O. M. Graf hatte die Gabe, Dinge so zu erzählen, wie sie zwar nicht gewesen sind, aber hätten sein können. Das Buch „Die gezählten Jahre“ (erste Fassung 1936 unter dem Titel „Der Abgrund“) ist die fiktive Geschichte der Familie eines Münchner Sozialdemokraten, zugleich aber ein echter Beitrag zur Geschichte der Sozialdemokratie zwischen Weimar und Hitler und ihres unaufhaltsamen Niedergangs. Durch die Flucht nach Österreich wird auch das tragische Geschehen der Februartage von 1934 in Wien miteinbezogen.

Der Autor vermischt romanhaft erfundene Einzelschicksale mit historischen Fakten und Daten zu einer Einheit. Freilich ist seine Sicht subjektiv, doch die Ehrlichkeit seines Anliegens überzeugt und fordert Respekt. Eine Neuausgabe 1976 hätte vielleicht den historischen Abstand von vierzig Jahren mehr zum Ausdruck bringen müssen; wenn schon ein Nachwort beigegeben wurde, so sollte dieses die Verteilung der Gewichte ausgleichen- schließlich waren ja die Sozialdemokraten nicht die einzigen Opfer Hitlers, und über den Austrofaschismus der Dollfuß-Ära kann man heute auch nicht mehr so schreiben wie 1936. Doch Jean Arnery tut in seinem Nachwort das Gegenteil, indem er Grafs Roman in den Dienst der heutigen sozialistischen Tagespolitik stellt. Das ist bedauerlich und kommt dem Wert des Buches als Zeitdokument nicht zugute.

Ein anderes Thema hat Graf in dem Buch „Die Flucht ins Mittelmäßige“ (U ntertitel: „Ein New Y orker Roman“) behandelt: Das Schicksal der Emigration. Es handelt sich ebenfalls um eine Neuausgabe, die noch vom Autor selbst bearbeitet wurde. Ein bunt zusammengewürfelter Kreis deutsch-sprachiger Emigranten im New York der fünfziger Jahre bildet den Rahmen. Es sind rassisch und politisch Verfolgte, die nach dem Krieg in den USA hängengeblieben sind, ohne dort wirklich heimisch zu werden. Graf selbst lebte bis zu seinem Tode 1967 in New York und kannte die Atmosphäre dieser Stadt ebenso wie das Leben in der Fremde, das er psychologisch meisterhaft schildert. Emigration wird zum Exil, die Betroffenen verlieren sich in Egozentrik und tragischer Iso lation, suchen Freundschaften und sind doch keiner echten Bindung mehr fähig. Als einziger Ausweg bleibt die „Flucht ins Mittelmäßige“. Die Hauptfigur, ein Schriftsteller ohne wirklich große Begabung, aber mit manipuliertem Erfolg, der seinen Auf-' stieg menschlich nicht verkraften kann, flieht zurück nach Deutschland, zurück in die Anonymität.

Wenn man bedenkt, wieviele Emigranten es auch in unserer Zeit gibt, kann man sagen, daß hier ein leider allgemeingültiges Problem aus der zeitgeschichtlichen Sicht zeitlos gestaltet wurde.

DIE GEZAHLTEN JAHRE. Von Oskar Maria Graf. Mit einem Nachwort von Jean Arnery. Süddeutscher Verlag, München, 1976, 471 Seiten, öS 192,50.

DIE FLUCHT INS MITTELMÄSSI- GE. Ein New Yorker Roman von Oskar Maria Graf. Nachwort von Erich Noether. Süddeutscher Verlag, München, 1976, 582 Seiten, öS 192,50.

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