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Zu früh und zu spät

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Aristiide Briarud ist für die Miterlebenden der faszinierende Gegenspieler Gustav Stresemanns gewesen, ein Staatsmann, der versuchte, Versailles durch ein neues System einer europäischen Friedensordnung zu überwinden. Elfmal französischer Ministerpräsident und dreiundzwan-zigmal Minister, hat Briand zweifellos neben anderen bedeutenden französischen Politikern die Geschichte der Dritten Republik sehr wesentlich beeinflußt, ohne wie Stresemann Aufzeichnungen oder Reflexionen hinterlassen zu haben.

Der Verfasser, einer -der besten Kenner der italienischen und der französischen Geschichte, hat auf Grund jahrelanger Arbeit ein sehr lebendiges Bild des französischen Politikers gezeichnet, der eine Mischung aus Bohemien, Pragmatiker und französischem Nationalisten gewesen ist, ohne die größeren Zusammenhänge aus den Augen zu ver-heren:-ftr-der Krs*e~von Vwxhi'der politisch Verantwortliche, war Briand ein Schatten hinter den Friedenshoffnungen des Jahres 1917, vielleicht Mit- und Gegenspieler der deutschen und Österreich-ungarischen Friedensfühler. Jedenfalls stießen die diesbezüglichen Bestrebungen Kaiser Karls auf seine Sympathie.

Weltgeschichtlich bedeutend wurde aber nach dem Scheitern der ersten Jahre deutsch-französischer Spannungen, nicht zuletzt, nachdem die Weimarer Republik versucht hatte, auf dem Umweg einer deutsch-sowjetrussisohen Übereinstimmung, europäischer Machtfaktor zu werden, der Gesamtkomplex, den man mit Briand und „Locarno“ versteht. Die Initiative ging von Stresemann aus und Briand, eben französischer Außenminister geworden, griff die Möglichkeit auf, in der Kombination zwischen einem feierlichen Verzicht Deutschlands auf Elsaß-Lothringen und dem Zugeständnis auf eine baldige Aufnahme in den Völkerbund, einen Weg in die Zukunft zu sehen, der vor allem die Räumung der besetzten deutschen Gebiete ermöglichte. Daß dem 10. September 1926, der Aufnahme Deutsehlands in den Völkerbund, aber gleichzeitig die Rückversicherung des Berliner Vertrages vom 24. April 1926 vorausging — womit sich die Sowjetunion gegenüber einer eventuellen internationalen Intervention absicherte —, war für Briand eine ebenso große Enttäuschung wie die zunehmende Verhärtung der deutsch-französischen Beziehungen. Die jüngsten Forschungen haben erwiesen, daß Stresemann in der Außenpolitik eine Politik des doppelten Bodens betreiben mußte, und in allen für Frankreich wesentlichen Fragen: Anschluß, Ostgrenzen, Polen, ja sogar Südtirol, in seinem berühmten Brief an den deutschen Kronprinzen im Jahr 1925 ein durchaus radikales Programm entwickelte. Trotzdem war für die beiden, welche man gerne als „die Bringer des Friedens“ gefeiert hätte, die Zeit zu kurz, aber auch die soziale, Ökonomisohe und innenpolitische Entwicklung zu radikal. Wenn der sterbenskranke Stresemann im Jahre 1929 darauf hinwies, daß „die Saar-Frage gelöst werden müsse, sollte nicht ein anderer“ *J nämlich Hitler —, „von Frankreich viel mehr fordern“, so war dies nur ein Vorzeichen der Enttäuschungen, die Briand noch 1930 in der Krise um die deutsch-österreichdsche Zollunion erleben sollte, wobei damit trotz aller Beschönigungen die französische Vormacht in Europa ihren Höhepunkt erreicht hatte. Der Verfasser hat mit Recht die Tragik von Briands Abstieg im Schatten neu aufkommender radikaler Kräfte auf beiden Seiten geschildert und darauf hingewiesen, daß seine Ideen vielleicht zu früh — und doch auch zu spät die französisch-deutsche Politik beeinflußten.

ARISTIDE BRIAND. Staatsmann zwischen Frankreich und Europa. Politische Biographie. Von Ferdinand Sieb er t. Eugen Rentsch-V erlag, Erlenbach-Zürich und Stuttgart, 1973. 704 Seiten, mit 10 Abbildungen, Leinen DM 49,—.

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